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Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt

Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt

Titel: Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frederick Kempe
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sich, den Ausweis selbst in Ostberlin zu übergeben, weil es zu riskant wäre, ohne Ausweis in den Westen zurückzukehren. Darauf erklärte Bolle, er werde den Ausweis überbringen. »Sie hängen keinen, den sie nicht fangen«, höhnte er.
    Am Abend vor seiner gefährlichen Mission hatte Bolle seine Mutter gefragt, ob sie jemandem bei der Flucht helfen würde, wenn sie an seiner Stelle wäre. Nur wenn es ein Familienangehöriger oder ein enger Freund ist, hatte sie geantwortet. Sein Vater bewunderte die gute Absicht seines Sohnes, befürchtete aber, dass sein Sohn Eberhard ein zu großer Hasenfuß sei, um die Sache erfolgreich durchzuziehen.
    »Iss erst mal was«, sagte sein Vater. »Wer weiß, wann du deine nächste Mahlzeit bekommst?« Bolle schlang ein paar Bissen hinunter, während sein Vater wissen wollte, was er antworten würde, wenn ein DDR-Polizist den zweiten Ausweis entdeckte. Seine Antworten klangen wenig überzeugend, also hofften beide, dass es nie so weit kommen würde.
    Bolle stieg am Bahnhof Friedrichstraße aus, wo alle Reisende nach Ostberlin die U-Bahn verließen. Schwitzend und zitternd seufzte er erleichtert auf, als die Grenzpolizisten ihn durchwinkten. Er war bereits auf den letzten Stufen der Station, als von rechts ein Grenzpolizist auftauchte und ihn fest am Arm packte.

    Noch Jahre später, nach Verhör, Prozess, Urteil und Gefängnis, fragte sich Bolle, wieso es dem Grenzbeamten gelungen war, ihn aus der Menge herauszupicken. Leider kannte er die Antwort nur zu gut.
    Seine Angst hatte ihn verraten.
    Die Rückkehr eines pensionierten US-Generals war nötig, um den Mut der Westberliner wieder aufzurichten.

KAPITEL 17
Atompoker
    In gewissem Sinne gibt es hier eine Analogie – ich mag diesen Vergleich –
zur Arche Noah, auf der sowohl die »Reinen« als auch die »Unreinen«
Zuflucht fanden. Unabhängig davon, wer sich selbst als »rein« bezeichnet und
wen man für »unrein« hält, sie alle sind doch nur an einer Sache interessiert,
nämlich dass die Arche ihre Fahrt erfolgreich fortsetzen kann.
    MINISTERPRÄSIDENT CHRUSCHTSCHOW AN US-PRÄSIDENT KENNEDY
IM ERSTEN BRIEF IHRER GEHEIMKORRESPONDENZ VOM 29. SEPTEMBER 1961 1
     
    Unser Vertrauen in unsere Fähigkeit, kommunistische Aktionen abzuschrecken oder uns kommunistischen Erpressungsversuchen zu widersetzen, gründet auf einer nüchterne nEinschätzung der relativen militärischen Macht der beiden Seiten. Tatsächlich verfügt unsere Nation über derart todbringende Mittel für einen nuklearen Vergeltungsschlag, dass jeder Schritt des Feindes, der sie ins Spiel bringen würde, einem Selbstmord gleichkäme.
    DER STELLVERTRETENDE US-VERTEIDIGUNGSMINISTER ROSWELL GILPATRIC
IN HOT SPRINGS, VIRGINIA, 21. OKTOBER 1961 2
    CARLYLE-HOTEL, NEW YORK
SAMSTAG, 30. SEPTEMBER 1961
    Georgij Bolschakow trug zwei Zeitungen unter dem Arm, als er wie verabredet um 15:30 Uhr an Pierre Salingers Zimmertür im Carlyle-Hotel klopfte. 3 Ein Agent des Secret Service hatte ihn am Hintereingang empfangen und dann mit dem Personalaufzug hinaufgebracht.
    In einer der Zeitungen war ein dicker brauner Briefumschlag versteckt, aus dem Bolschakow jetzt umständlich ein Bündel Papier herauszog. Mit verschwörerischer Miene verkündete der Sowjetspion, dass er hier einen sechsundzwanzigseitigen
persönlichen Brief Chruschtschows an Kennedy in der Hand halte, an dessen Übersetzung er die ganze Nacht gearbeitet habe. Die dunklen Ringe unter Bolschakows Augen waren jedoch dermaßen typisch für ihn, dass Salinger nicht ausmachen konnte, ob er die Wahrheit sagte.
    »Hier! Sie dürfen ihn lesen«, sagte er Salinger. »Aber sonst ist das nur für den Präsidenten bestimmt.« Erst vor einer Woche hatten sich Bolschakow und Salinger vor Kennedys UN-Rede im selben Zimmer getroffen. Offenbar wollte Chruschtschow keine Zeit verlieren, um herauszufinden, ob Kennedys versöhnliche Worte ernst zu nehmen seien und ob er tatsächlich bereit war, trotz des Widerstands Frankreichs und der Bundesrepublik neue Gespräche über Berlin aufzunehmen. Bolschakow händigte dem Präsidentensprecher auch das russische Original aus, damit die Übersetzer der US-Regierung die Genauigkeit der englischen Version überprüfen konnten.
    Auf diese Weise begann das, was der Nationale Sicherheitsberater McGeorge Bundy als die »Brieffreundschaft« zwischen Kennedy und Chruschtschow bezeichnete, der einzigartige direkte Austausch von persönlichen Briefen zwischen den damaligen Chefs der beiden

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