Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt
sagte er, ein Gefühl der Hilflosigkeit empfunden, als er mit dieser schreienden Ungerechtigkeit konfrontiert wurde.
Bild 46
Eine alte Frau wird aus einem Fenster ihres Hauses, das auf der Grenze zwischen West- und Ostberlin liegt, in die Freiheit heruntergelassen. Nachbarn und Westberliner Feuerwehrmänner helfen ihr dabei.
Das Schlimmste waren die tragischen Todesfälle jener Tage der Verzweiflung. Das erste Opfer, das Lazai miterlebte, war Ida Siekmann. Am 21. August, nur einen Tag vor ihrem neunundfünfzigsten Geburtstag, wurde sie das erste Todesopfer an der Bernauer Straße. Lazai war auf dem Weg zur Arbeit soeben links in die Straße eingebogen, da sah er einen großen dunklen Ball von einem der Gebäude herabfallen. Siekmann hatte ihre Matratze aus einem Fenster im dritten Stock geworfen und war hinterhergesprungen in der Hoffnung, dass die Matratze den Aufprall dämpfen werde.
Sie starb noch auf dem Weg ins Krankenhaus. 57
Danach setzte die Westberliner Polizei verstärkte Sprungtücher der Feuerwehr ein, mit denen sie Springende auffangen konnte. Dennoch mussten die Flüchtlinge relativ genau springen, weil sich die sechzehn Männer, die in der Regel das Sprungtuch hielten, nicht allzu schnell in eine Richtung bewegen konnten, um einen ungenauen Sprung zu korrigieren.
Es war fast 20 Uhr am 4. Oktober, als Lazai zum ersten Mal durch die Dunkelheit Bernd Lünser, einem zweiundzwanzigjährigen Ingenieurstudenten, zurief, er solle vom Dach des vierstöckigen Mietshauses Bernauer Straße 44 in ein solches Sprungtuch springen.
Zunächst hatte Lünser versucht, den Mut aufzubringen, sich vom Dach mit einer Wäscheleine abzuseilen, die er mitgebracht hatte. Eine wachsende Menge Westberliner rief ihm aufmunternde Worte zu, machte dadurch aber die DDR-Polizei auf den Fluchtversuch aufmerksam.
Gerhard Peters, ein neunzehnjähriger DDR-Grenzpolizist, führte die Verfolgung an, nachdem sich die Grenzbeamten über eine Klappe Zugang zum Dach verschafft hatten. Lünser löste Dachziegel ab und bewarf damit Peters, zu dem sich nach kurzer Zeit drei weitere Beamte gesellten.
Als ein DDR-Polizist auf den Flüchtling schoss, zogen Westberliner Polizeibeamte auf der Straße ihre Pistolen. Es kam zu einem Schusswechsel von achtundzwanzig Schüssen mit den ostdeutschen Kollegen. Da sie Befehl hatten, ihre Pistolen nur zur Verteidigung einzusetzen, argumentierte die westdeutsche Polizei später, die Männer hätten erst dann eingegriffen, als man auf sie das Feuer eröffnet habe.
Die Kugel eines Westberliner Polizisten traf den verfolgenden DDR-Grenzpolizisten in den Oberschenkel. Da Lünser eine letzte Chance zur Flucht
erkannte, befreite er sich mit einem Ruck und rannte los. Einige in der Menge riefen ihm zu, er solle doch den Polizisten vom Dach stoßen. Andere, auch Lazai, forderten ihn auf, in das ausgebreitete Sprungtuch zu springen. Als der Student schließlich sprang, blieb er mit einem Fuß an der Dachrinne hängen und fiel Kopf voraus in die Tiefe – gut drei Meter neben dem Sprungtuch schlug er auf.
Er war sofort tot.
Lazai machte sich später Vorwürfe wegen seiner Rolle bei dem Vorfall: »Mann, ich habe ihn in seinen eigenen Tod gelockt.«
Am nächsten Tag schickten DDR-Behörden dem Grenzpolizisten Peters Rosen. Der DDR-Innenminister Karl Maron zeichnete ihn für seine Verwundung bei der Pflichterfüllung aus. Eine Schlagzeile in der Westberliner Zeitung BZ höhnte: ORDEN FÜR MORD. 58
Die ehemalige, mittlerweile verstorbene Ministerin für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Brandenburg, Regine Hildebrandt, die in ihrer Kindheit in der Nähe der Bernauer Straße 44 gelebt hatte, war bis zum Tag von Lünsers Tod schon Zeugin von vielen gescheiterten, aber auch erfolgreichen Fluchtversuchen gewesen.
Während sie in ihr Tagebuch schrieb, rauchte sie eine Zigarette aus einem Paket von Westberliner Freunden, das sie in einem Korb mit einem Seil zu ihrem Fenster hochgezogen hatte. Der Korb enthielt auch Orangen, Bananen und andere Waren – ein kleiner Trost für ein zerstörtes Leben.
Eben fahren wieder zwei große westdeutsche Reisebusse vorbei. Ja, wir sind jetzt Sehenswürdigkeit Nr. 1 in Berlin! Oh, wie gern wären wir unbeachtet wie eh und je. Wie gern würden wir das Rad der Geschichte zurückdrehen und alles beim Alten lassen. Ach, es ist ein Jammer. Wieder ein Bus! Es ist eine garstige Zeit, in der wir leben. Alles ist lustlos, keiner findet mehr Freude an der Arbeit; eine
Weitere Kostenlose Bücher