Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt
überragende Bedeutung beimesse«.
Der Sowjetführer meinte, er sei bereit, Positionen, die in den fünfzehn Jahren des Kalten Kriegs eingefroren seien, neu zu bewerten. Raffiniert wie er war, wandte sich der atheistische Chruschtschow dann speziell an den katholischen Kennedy, indem er die Nachkriegswelt mit der Arche Noah verglich, auf der sowohl die »Reinen« als auch die »Unreinen« nur interessiere, »dass die Arche ihre Fahrt erfolgreich fortsetzen« könne. »Und wir haben keine Alternative: Entweder leben wir in Frieden und sorgen alle zusammen dafür, dass die Arche seetüchtig bleibt, oder sie wird sinken.«
Chruschtschow erklärte sich auch bereit, die stillen Kontakte zwischen Außenminister Rusk und Außenminister Gromyko weiterlaufen zu lassen, deren erstes Treffen am 21. September in New York stattgefunden hatte. 6 Darüber hinaus griff er Kennedys Vorschlag vorbereitender Gespräche zwischen den US-amerikanischen und sowjetischen Botschaftern in Jugoslawien, zwischen Amerikas legendärem Diplomaten George F. Kennan und dem Chruschtschow-Vertrauten General Alexej Jepischew, auf.
Am 14. August, also nur einen Tag nach der Grenzschließung, hatte das US-Außenministerium Kennan autorisiert, eine Verbindung zu Jepischew herzustellen. Damals hatte Moskau allerdings keinerlei Interesse gezeigt. Jetzt stimmte Chruschtschow zu. Allerdings äußerte er die Besorgnis, dass die beiden Botschafter ohne klare Instruktionen »nur eine Menge Tee trinken und sich gegenseitig anmuhen, statt über das Wesentliche zu reden«. Stattdessen schlug Chruschtschow für solche Gespräche den US-Botschafter in Moskau, Thompson, vor, da dieser ein vertrauenswürdiger und erprobter Unterhändler sei. Gleich darauf entschuldigte er sich jedoch, dass er sehr wohl wisse, dass dies ganz allein Kennedys Entscheidung sei.
Schließlich protestierte er gegen den Verdacht des Westens, dass Moskau immer noch beabsichtige, sich Westberlins zu bemächtigen. »Nur daran zu denken, ist schon lächerlich«, meinte er. Immerhin habe die Stadt keinerlei geopolitische Bedeutung. Um seine guten Absichten zu beweisen, schlug er vor, das Hauptquartier der Vereinten Nationen nach Westberlin zu verlegen, eine
Idee, die er bereits früher in diesem Monat bei getrennten Begegnungen mit dem belgischen Außenminister Paul-Henri Spaak und dem ehemaligen französischen Premierminister Paul Reynaud vorgebracht hatte.
Neben der Öffnung eines neuen Kanals zu Kennedy ergriff Chruschtschow noch andere Maßnahmen, um ein weiteres Ansteigen der Spannungen mit den Vereinigten Staaten zu vermeiden. 7 So hatte das Präsidium der KPdSU einen bereits weit gediehenen Plan auf Eis gelegt, Kuba mit modernen Waffen zu beliefern, zu denen auch Raketen gehören sollten, die Ziele in den USA erreichen könnten. Außerdem hatte Chruschtschow Ulbricht vor einer ganzen Reihe von Maßnahmen gewarnt, mit denen dieser seinen Griff auf Ostberlin verstärken wollte. Er hatte dabei seinen lästigen ostdeutschen Vasallen belehrt, er solle sich mit den bisherigen Erfolgen des Jahres 1961 jetzt zufriedengeben. 8
Als wichtigste Geste reagierte Chruschtschow auf Kennedys Aufforderung der vorangegangenen Woche, Fortschritte in Laos zu erzielen. Er bestätigte ihre Wiener Abmachung, dass Laos ein neutraler, unabhängiger Staat wie Kambodscha und Burma werden solle. Im Gegensatz zu Kennedy war er jedoch nicht der Meinung, dass sie die Besetzung der einzelnen Führungspositionen in Laos bestimmen sollten, da dies weder Washingtons noch Moskaus Angelegenheit sei.
Schließlich beendete er den Brief mit den besten Wünschen für Kennedys Frau und für die Gesundheit des US-Präsidenten und seiner Familie.
HYANNIS PORT, MASSACHUSETTS
SAMSTAG, 14. OKTOBER 1961
Kennedy nahm sich zwei Wochen Zeit, um auf den Brief zu antworten.
An diesem Wochenende auf Cape Cod feilte der US-Präsident an einem Entwurf, der sowohl sein gestiegenes Misstrauen gegenüber Chruschtschow als auch seinen Wunsch berücksichtigen sollte, alles in seiner Macht Stehende zu unternehmen, um einen Krieg aufgrund einer Fehlkalkulation zu vermeiden. Eine negative Antwort konnte einen weiteren Schritt des Kremls in Berlin beschleunigen, eine zu positive würde jedoch bei seinen Kritikern im Inland und unter den Verbündeten als naiv erscheinen. Charles de Gaulle und Konrad Adenauer hegten beide die Sorge, dass jedes Gespräch zwischen Kennedy und Chruschtschow nur zu neuen Konzessionen in Westberlin führen
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