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Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt

Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt

Titel: Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frederick Kempe
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Atmosphäre der Resignation, des »Es hat doch keinen Sinn, sie machen mit uns, was sie wollen, und wir könnten nichts dagegen tun.« Sich ducken hemmt alle Schaffensimpulse …
    Noch zwei Busse. Alles blickt trübe. Es ist ein Zustand der geballten Faust in der Tasche. 59
    In den folgenden Tagen gab es in Berlin einige unvermutete Helden, aber ihre Bemühungen scheiterten ebenso häufig, wie sie gelangen.

    Eberhard Bolle landet im Gefängnis
    Eberhard Bolle war von der Gefahr, in die er sich begeben wollte, so eingenommen, dass er die Titelseiten am Zeitungskiosk in Westberlins Bahnhof Zoo kaum eines Blickes würdigte. Sie berichteten von der Ankunft von US-Vizepräsident Johnson und General Clay und der Aufstockung der US-Truppen. Aber Bolle hatte andere Sorgen: Der Philosophiestudent war im Begriff, das größte Risiko seines Lebens einzugehen. 60
    Bevor Bolle die blaue Windjacke zuknöpfte, tastete er noch einmal, um sich zu vergewissern, dass die beiden Personalausweise in seiner Innentasche waren. Obwohl es nicht sonderlich warm war, rann ihm der Schweiß von der Stirn. Seine Mutter liebte sein entwaffnendes Lächeln, aber momentan brachte Bolle nur ein beunruhigtes Stirnrunzeln zustande.
    Der erste Ausweis in seiner Tasche war sein eigener, und diesen wollte er vorzeigen, wenn er beim Übergang nach Ostberlin aufgefordert wurde. Trotz der Grenzschließung vor sechs Tagen durften Westberliner bislang noch ungehindert mit ihrem Ausweis den Ostteil der Stadt betreten. Mit dem zweiten Westberliner Personalausweis wollte Bolle seinem Freund und Kommilitonen der Freien Universität, dem Studenten Winfried Kastner, 61 zur Flucht in den Westen verhelfen. Die beiden teilten eine Vorliebe für amerikanische Musik. Wie die meisten Berliner Studenten in diesem Sommer hatten auch sie während der Ferien immer wieder den neuesten Hit von Ricky Nelson »Hello Mary Lou« angehört, der Westberlin im Sturm erobert hatte.
    Die Freie Universität lag zwar in Westberlin, aber vor dem 13. August hatte etwa ein Drittel der fünfzehntausend Studenten in Ostberlin gewohnt. Über Nacht hatte die Schließung der Grenze deren Studium beendet. Für Kastner war dies eine besonders herbe Enttäuschung, weil er bereits im letzten Studienjahr war und man ihn an keiner ostdeutschen Hochschule annehmen würde, da seine Familie als politisch unzuverlässig galt. Also wollte Bolle ihm den Ausweis eines Westberliner Freundes bringen, der Kastner sehr ähnlich sah. Nach ihrem Plan sollte Kastner einfach diesen Ausweis der Grenzpolizei zeigen, wenn er die Grenze nach Westberlin passierte.
    Bolle war ein unpolitischer, konservativer Student, der instinktiv jeder Gefahr aus dem Weg ging. Am Tag nach der Grenzschließung hatte er sich etwa geweigert, einem anderen Kommilitonen bei der Flucht zu helfen. Sein Umdenken seither hatte Willy Brandts Rede
vom 16. August vor dem Rathaus bewirkt, die ihn so sehr beeindruckt hatte, dass er den Aufruf zum Handeln in sein Tagebuch geschrieben hatte. Die Berliner müssten jetzt standhaft bleiben, hatte Brandt gesagt, damit der Feind nicht feiere, während die eigenen Landsleute in Verzweiflung versanken. »Wir haben uns würdig zu erweisen der Ideale, die in dieser Freiheitsglocke über uns symbolisiert sind.«
    Zwei Tage später hatte Kastners Mutter Bolle, als er sie in ihrer Wohnung im Ostberliner Bezirk Köpenick besucht hatte, unter Tränen angefleht, ihrem Sohn zu helfen. Es kursierten Gerüchte, dass die Grenzkontrollen zunehmend verschärft würden, sagte sie, und deshalb müsse jeder, der Ostberlin verlassen wolle, möglichst schnell handeln. Sie und ihr Mann würden sich zwar ungern von ihrem Sohn trennen, aber sie müssten zuerst daran denken, sagte sie, wie er seinen Traum, Geschichtsprofessor zu werden, verwirklichen könne. Und im Osten sei das völlig ausgeschlossen.
    Bolle hatte vorgeschlagen, sein Freund könne durch einen Kanal schwimmen, aber Kastner protestierte, dass er ein viel zu schlechter Schwimmer sei. Er blieb dabei, dass der sicherste Fluchtweg sei, sich einen Westberliner Ausweis zu besorgen. Also gab er Bolle ein Foto von sich sowie Namen und Adresse eines katholischen Priesters, der angeblich solche Dokumente beschaffen konnte.
    Nachdem der Priester Bolle abgewiesen hatte, wandte sich der Philosophiestudent an einen Freund, der Kastner ähnlich sah. Der gab bereitwillig seinen Ausweis her. Er wollte den Ausweis als verloren melden und einen neuen beantragen. Allerdings weigerte er

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