Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt
gegensätzlichen Weltlager. In den nächsten beiden Jahren würde der Sowjetführer seine Schreiben weiterhin auf regelrecht verschwörerische Weise dem US-Präsidenten übergeben lassen. Bolschakow oder andere sowjetische Agenten steckten sie Salinger, Robert Kennedy oder Ted Sorensen an Straßenecken, in Bars oder an anderen Orten zu, wobei sie oft wie beim ersten Mal unbeschriebene Umschläge aus gefalteten Zeitungen herausholten.
Chruschtschow hielt die Angelegenheit für dermaßen dringend, dass Bolschakow Salinger bereits einen Tag zuvor angerufen und ihm angeboten hatte, sich ein Privatflugzeug zu mieten, um den Brief nach Newport auf Rhode Island zu bringen, wo Kennedy im Haus von Jacquelines Mutter, Janet Lee Bouvier, und ihrem Stiefvater, Hugh Auchincloss, eine Woche Urlaub machte. Der Präsident und Rusk wollten jedoch eine mögliche »Pressesensation« vermeiden, wenn einer der zwanzig oder dreißig Reporter, die Kennedy rund um die Uhr belagerten, den russischen Agenten möglicherweise bemerken würden. Deshalb sollte Salinger am nächsten Tag nach New York fliegen, um sich dort mit Bolschakow zu treffen.
Dieser war über die Verzögerung etwas verärgert. »Wenn Sie wüssten, wie wichtig meine Mitteilung ist, würden Sie mich nicht so lange warten lassen«, beklagte er sich.
Salinger würde später die Botschaft von Chruschtschows immerhin sechstausend
Wörter umfassendem Brief auf einen kurzen Nenner bringen: Sie, Herr Präsident, und ich sind die Führer zweier Nationen, die sich auf einem Kollisionskurs befinden. […] Es bleibt uns nichts anderes übrig, als die Köpfe zusammenzustecken und einen Weg zu finden, wie wir in Frieden miteinander leben können.
Der Mann, der Kennedy in Wien noch so hart angegangen war, begann sein Schreiben in einem herzlichen und persönlichen Ton. 4 Er erzählte, dass er gerade mit seiner Familie in seiner Villa am Schwarzen Meer auf Pizunda Urlaub mache. In der geheimniskrämerischen Sowjetunion wussten dagegen nicht einmal seine eigenen Bürger, wo er sich gerade aufhielt. »Als früherer Marineoffizier«, schrieb Chruschtschow an Kennedy, »würden Sie die Vorzüge dieser Umgebung, die Schönheit des Meeres und die Großartigkeit der Berge zu schätzen wissen.« Inmitten einer solchen Szenerie falle die Vorstellung schwer, dass ungelöste Probleme »einen finsteren Schatten auf das friedliche Leben und die Zukunft von Millionen Menschen werfen« könnten.
Da dies jedoch gegenwärtig der Fall sei, schlug er einen vertraulichen Briefwechsel zwischen den beiden Männern vor, deren Handeln die Zukunft des Planeten bestimmte. Wenn Kennedy daran nicht interessiert sei, solle er den Brief einfach als nicht existent betrachten, und auch er werde nie mehr darauf zurückkommen.
Salinger war beeindruckt von der »fast bäuerlichen Einfachheit und Direktheit« von Chruschtschows Sprache, die »im Gegensatz zu dem sterilen, nichts sagenden Gewäsch stand, das man als diplomatischen Notenwechsel auf höchster Ebene bezeichnet«. 5 Der Brief enthielt keine der üblichen Drohungen des Sowjetführers und erbat sogar Kennedys Gegenvorschläge, wenn er mit denen Chruschtschows nicht übereinstimme.
Die Initiative des sowjetischen Ministerpräsidenten hatte mehrere mögliche Hintergründe. Am wichtigsten war wohl der in wenig mehr als einer Woche beginnende Parteitag. Wenn er mit Kennedy einen solchen Gedankenaustausch begann, verschaffte ihm das eine größere Gewissheit, dass die Vereinigten Staaten nichts tun würden, um den von ihm peinlich genau geplanten Ablauf des Parteitags zu stören. Außerdem hoffte er, dadurch die Spannungen etwas abzubauen, aufgrund derer die USA ihre Rüstungsausgaben weit mehr erhöht hatten, als er angenommen hatte.
Chruschtschow wusste, dass der Sowjetunion die notwendige Wirtschaftskraft fehlte, um einen längeren Rüstungswettlauf mit den viel reicheren Vereinigten Staaten durchzuhalten. Zum ersten Mal musste er sich auch Sorgen machen, dass der Westen seine konventionelle Übermacht im Raum Berlin
infrage stellen könnte. Kennedys Rüstungsprogramm gab auch den Argumenten der sowjetischen Falken Auftrieb, dass Chruschtschow zu wenig tue, um dem Westen die Stirn zu bieten, und dass er mehr hätte unternehmen müssen, um Westberlin zu neutralisieren. In seinem Brief machte er Kennedy deutlich, dass ein von Berlin angeheiztes gegenseitiges Aufschaukeln der Rüstungsausgaben ein weiterer Grund sei, warum Moskau »der deutschen Frage eine solche
Weitere Kostenlose Bücher