Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt
zuzulassen, zog er jetzt eine Linie, die er in Bezug auf Berlin auf keinen Fall überschreiten würde. Er lehnte Chruschtschows Vorschlag ab, Verhandlungen über eine Änderung des Status von Westberlin in eine »Freie Stadt« aufzunehmen, deren Freiheit von sowjetischen Truppen zusammen mit denen der drei anderen Alliierten gewährleistet würde, während die DDR den Zugang kontrollieren würde. »Wir würden dasselbe Pferd zweimal kaufen«, schrieb er, »wenn wir den von Ihnen angestrebten Zielen zustimmten und dabei nur das behalten, was wir bereits besitzen.« Allerdings erklärte Kennedy seine Bereitschaft zu vorbereitenden Gesprächen, die von amerikanischer Seite Botschafter Thompson führen könnte, wie es Chruschtschow vorgeschlagen hatte.
Der US-Präsident forderte den Sowjetführer auf, sich als Testfall für Berlin in Laos gegenüber den Vereinigten Staaten entgegenkommender zu zeigen.
Er schrieb: »Ich sehe nicht, wie wir erwarten können, eine Übereinkunft über ein solch bitteres und komplexes Problem wie Berlin zu erreichen, wenn wir in Laos nicht zu einer endgültigen Vereinbarung gelangen, auf dessen Neutralität und Unabhängigkeit nach der Art von Burma und Kambodscha wir uns ja schon früher geeinigt haben.« Da es nun feststehe, dass der neutralistische Prinz Souvanna Phouma Premierminister werde, war Kennedy der Ansicht, dass er und Chruschtschow sicherstellen sollten, dass der Prinz »von den Männern unterstützt wird, die wir für die Aufrechterhaltung der Neutralität notwendig halten«. Die zunehmenden Angriffe auf Südvietnam, von denen viele von laotischem Territorium aus erfolgten, seien »eine sehr ernste Bedrohung des Friedens«.
Wichtiger als der Inhalt von Kennedys Brief war für Chruschtschow die Tatsache, dass der Präsident angebissen und überhaupt geantwortet hatte. Jetzt konnte der Sowjetführer ziemlich sicher sein, dass Kennedy zu neuen Berlin-Gesprächen bereit war und deshalb von seiner Seite in nächster Zeit keine konfrontativen Reden oder Aktionen zu erwarten waren, die die sorgfältige Planung seines wichtigen, kurz bevorstehenden Parteitags stören könnten. Nur zwei Monate nach der Grenzabriegelung in Berlin war Chruschtschow dabei, Kennedy zu neuen Verhandlungen über den Status der Stadt zu bewegen, ohne dass er auch nur die geringsten Wirtschaftssanktionen hätte erdulden müssen.
Was Kennedy dieser Austausch einbrachte, war erst einmal weniger zufriedenstellend. Chruschtschows nächste Nachricht erfolgte in Form einer 50-Megatonnen-Wasserstoffbombe.
KONGRESSPALAST, KREML, MOSKAU
DIENSTAG, 17. OKTOBER 1961
Trotz des Morgendunstes spiegelte sich die Sonne bereits in den goldenen Kuppeln der Kremlkirchen aus dem 15. und 16. Jahrhundert. Die roten Fahnen der fünfzehn Sowjetrepubliken flatterten vor dem modernen Kongresspalast mit seiner Glas- und Marmorfassade, der gerade noch rechtzeitig zum XXII. Parteitag der KPdSU fertig geworden war.
Seine Haupthalle war bis zum letzten Platz gefüllt. Nicht einer seiner roten Sitze war frei geblieben. Noch nie hatten sich so viele Kommunisten zur selben Zeit am selben Ort zusammengefunden. 4396 stimmberechtigte und
405 Gastdelegierte aus 80 kommunistischen und nichtkommunistischen Ländern hatten sich im Moskauer Kreml versammelt. Dies waren dreieinhalbmal mehr Delegierte als bei den beiden vorangegangenen Parteikongressen.
Die größere Zahl spiegelte das Wachstum der Partei wider, die jetzt mehr als 10 Millionen Mitglieder zählte, seit dem XXI. Parteitag im Jahr 1959 also um über 1,5 Millionen Parteigenossen gewachsen war. 13 Chruschtschow wollte für seine Supershow des Jahres 1961 eine Rekordteilnehmerzahl, deshalb durfte jede Parteiorganisation zusätzliche Delegierte nach Moskau schicken.
Der Kongresspalast war zumindest insofern einzigartig, als alles darin viel besser funktionierte als in den meisten anderen Regierungsgebäuden der Sowjetunion. 14 Es gab dort fast lautlose Rollstühle, eine hochmoderne Stereotonanlage, eine zentrale Klimaanlage aus der Bundesrepublik, in England hergestellte Kühlschränke und fließend heißes und kaltes Wasser in den Toiletten. Die westlichen Korrespondenten versammelten sich zum Essen und Trinken in der Bar im sechsten Stock, die sie »Top of the Marx« tauften.
Dem Time- Magazin fielen die ganz unterschiedlichen Teilnehmer auf: »Genossen aus kleinen russischen Dörfern, Pariser Kaffeehausintellektuelle und bambuszähe Agitatoren aus Asien.« 15 Stars des Kongresses
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