Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt
Erklärung aus der Tasche, die er jetzt vor allen Anwesenden verlas. Darin ging er Kennedy massiv an: »An der Basis dieses Landes ist man allgemein der Ansicht, dass Sie und Ihre Regierung ein Haufen Schlappschwänze sind.« Man bräuchte jetzt einen »Mann, der hoch zu Ross die Zügel fest in der Hand hält. Viele Bürger in Texas und im Südwesten haben jedoch den Eindruck, dass Sie lieber mit Carolines Dreirädchen fahren.«
Der von Chruschtschows Ankündigung und dem wochenlangen Druck in Berlin bereits ziemlich genervte Präsident antwortete auf diese Anwürfe in scharfem Ton: »Der Unterschied zwischen Ihnen und mir, Mr Dealey, ist, dass ich zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt worden bin und Sie nicht. Ich bin für das Leben von 180 Millionen Amerikanern verantwortlich, Sie sind das nicht. […] Es ist leichter, über Kriege zu reden, als sie zu führen. Ich bin genauso hart und entschlossen wie Sie – schließlich wurde ich nicht zum Präsidenten gewählt, weil ich Konflikten aus dem Weg gegangen bin.«
Kennedy stand damals vor der härtesten Entscheidung seines Lebens, nämlich wie er einen Atomkrieg mit der Sowjetunion führen würde. Chruschtschow ließ diese Überlegungen jetzt plötzlich nicht mehr rein akademisch erscheinen. Der Plan, den er gegenwärtig nach wochenlangen intensiven, hochgeheimen Sitzungen durcharbeitete, sah die präventive Vernichtung des gesamten sowjetischen Nukleararsenals vor, sodass auch nicht eine einzige Waffe für einen Gegenschlag übrigbleiben würde. In aller Ausführlichkeit legte er die Flugrouten der US-Bomber dar, die Höhe, die diese einhalten mussten, um nicht entdeckt zu werden, und welche Ziele mit welcher Art von Atomwaffen getroffen werden sollten.
Bevor er zum Präsidenten gelangte, war der Plan innerhalb der Verteidigungsbürokratie nach langen Diskussionen Dutzende Male umgeschrieben worden. Inzwischen stand die Berliner Mauer bereits seit drei Wochen. Unter dem eher nichts sagenden Titel »Strategische Luftplanung und Berlin« wurde das Memorandum am 5. September General Maxwell Taylor, Kennedys Verbindungsmann zum Militär, zugeleitet. 20 Der Verfasser, Carl Kaysen, eines der jungen Genies der Kennedy-Administration, kam zu folgendem Schluss: »Die Wahrscheinlichkeit, einen beträchtlichen Erfolg zu erzielen, ist groß.« Dies erfordere »nur« eine halbe bis eine Million sowjetischer Opfer. Der Bericht enthielt allerdings auch Tabellen, die eine andere Möglichkeit zeigten. Wenn nämlich nicht ausgeschaltete sowjetische Raketen im Gegenzug in den Vereinigten Staaten einschlügen, wären zwischen fünf und zehn Millionen Tote zu erwarten, da die Bevölkerungsdichte in New York und Washington dichter sei. Kaysen meinte dazu nur trocken: »Menschen sind eben leicht zu töten.«
Seit einem Monat war Kaysen als »Deputy Special Assistance« unmittelbar unter dem Nationalen Sicherheitsberater McGeorge Bundy tätig. Zuvor hatte er in der Administration auf ganz unterschiedlichen Gebieten gearbeitet, die von internationalen Handelsfragen bis zu den Kostenfaktoren von Alarmsystemen für Flugzeuge reichten, und dabei einen immer größeren Einfluss gewonnen. Der einundvierzigjährige Harvard-Professor für Wirtschaftswissenschaften hatte im Zweiten Weltkrieg in London gedient und dabei für das Office of Strategic Services (OSS), den damals neu eingerichteten US-Geheimdienst und Vorläufer der CIA, Bombenziele auf dem europäischen Kontinent ausgewählt.
Am Anfang seiner Ausarbeitung wies er auf Schwachstellen des »Single Integrated Operational Plan« (SIOP-62) hin. Dieser integrierte Operationsplan legte bisher fest, wie Kennedy im Kriegsfall die sogenannte nuklearstrategische
Schlagkraft einsetzen sollte. SIOP-62 sah den Einsatz von 2258 Raketen und Bombern vor, die insgesamt 3423 Atomwaffen beförderten, die 1077 »militärische und städtisch-industrielle Ziele« im ganzen »chinesisch-sowjetischen Block« treffen sollten. Dem Plan zufolge würde dieser Angriff 54 Prozent der sowjetischen Gesamtbevölkerung (71 Prozent der städtischen Bevölkerung) töten und 82 Prozent ihrer Gebäude »gemessen nach Grundfläche« zerstören. Kaysen war der Ansicht, dass SIOP-62 die Zahl der Opfer sogar noch unterschätzte, da dessen Berechnungen nur für die ersten zweiundsiebzig Stunden des Kriegs galten.
Kaysen war sich sicher, dass zwei Umstände eine Abschaffung oder beträchtliche Änderung des SIOP-62 erforderlich machten. Er befürchtete einen
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