Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt
Geschichte zünden lassen werde.
Selbst Stalin hätte Chruschtschows Choreografie bewundert. Die ersten zwei Tage waren ganz seinen beiden großen Reden gewidmet, von denen jede etwa sechs Stunden dauerte. Mit unerschöpflicher Energie hakte er ein Thema nach dem anderen ab. So beschrieb er in aller Ausführlichkeit, wie die sowjetische Wirtschaft die der Vereinigten Staaten bis 1980 überholen würde. Bis dahin würde sie ihr Bruttosozialprodukt verfünffachen, ihre Industrieproduktion versechsfachen und jeder Familie eine mietfreie Wohnung bereitstellen. Im Jahr 1965 werde die Sowjetunion drei Paar Schuhe pro Einwohner pro Jahr herstellen!
Er erneuerte seine Angriffe auf den toten Stalin. Am Ende des Parteitags würde er den einbalsamierten Diktator aus dem Mausoleum am Roten Platz entfernen lassen, wo er bisher neben Lenin ruhte, und ihn an einem weniger
prominenten Ort direkt an der Kremlmauer neben kommunistischen Helden niedrigeren Rangs beisetzen lassen.
Die größte Aufmerksamkeit der Delegierten und der Welt erregte er jedoch, als er zwei mit Berlin verbundene Bomben platzen ließ. Davon war eine figurativ, die andere dagegen sehr real.
Zur Enttäuschung Ulbrichts verkündete Chruschtschow, dass er seinen Plan fallenlasse, bis zum Jahresende einen Friedensvertrag mit der DDR abzuschließen. Gromykos Gespräche mit Kennedy hätten nämlich gezeigt, dass die Westmächte »bereit sind, nach einer Übereinkunft über Berlin zu suchen«.
Nachdem er Kennedy dieses Zuckerbrot angeboten hatte, schwang Chruschtschow als Nächstes die nukleare Peitsche. Er wich von seinem vorbereiteten Text ab, um über die sowjetischen militärischen Möglichkeiten vor allem auf dem Gebiet der Raketenentwicklung zu reden. Er erzählte lachend, dass die Sowjets inzwischen so große Fortschritte gemacht hätten, dass die amerikanischen Spionageschiffe die bemerkenswerte Treffsicherheit ihrer Raketen verfolgen und bestätigen würden.
Im selben spaßigen Ton und aus dem Stegreif sprechend, überraschte er dann seine Zuhörer mit der Ankündigung: »Da ich bereits von meinem Text abgewichen bin, möchte ich nur noch sagen, dass die Versuche mit unseren neuen Nuklearwaffen ebenfalls erfolgreich vorankommen. Wir werden diese Tests bald abschließen – wahrscheinlich Ende Oktober. Wir werden dabei möglicherweise noch einen draufsetzen, indem wir eine Wasserstoffbombe mit einer Sprengkraft von 50 Millionen Tonnen TNT zünden.«
Die Delegierten sprangen auf und applaudierten wie wild. Niemand hatte bisher jemals eine solch gewaltige Waffe getestet. Die Reporter schrieben fieberhaft in ihre Notizblöcke.
»Wir haben bereits mitgeteilt, dass wir auch eine 100-Megatonnen-Bombe besitzen«, fügte er, angespornt von der Reaktion seiner Zuhörer, hinzu. »Das stimmt auch. Aber wir werden sie nicht zünden, denn durch ihre Detonation würden selbst noch an den entferntesten Orten die Fensterscheiben zerspringen. «
Die Delegierten brüllten vor Begeisterung und brachen in stürmischen Beifall aus.
Der atheistische Sowjetführer wandte sich dann sogar noch an den Allmächtigen. »Gebe Gott, wie man früher gesagt hat, dass wir niemals gezwungen sein werden, eine dieser Bomben über dem Gebiet einer anderen Nation zur Explosion zu bringen. Dies ist der größte Wunsch unseres Lebens.«
Dies war wieder einmal der klassische Chruschtschow. Er hatte etwas Druck von Kennedy genommen, indem er den Endtermin für Berlin-Verhandlungen aufgehoben hatte. Gleichzeitig hatte er ihm die Nachricht über einen unmittelbar bevorstehenden Atomversuch um die Ohren geschlagen. Am letzten Tag des Parteikongresses ließ die Sowjetunion tatsächlich die stärkste Nuklearwaffe detonieren, die jemals gebaut wurde. Die Sprengkraft dieser »Zar-Bombe«, wie sie später im Westen genannt werden sollte, war 3800-fach stärker als die der ersten Atombombe, die im Jahr 1945 Hiroschima ausgelöscht hatte.
Der wieder einmal kalt erwischte Kennedy wusste, dass er darauf unbedingt reagieren musste.
WEISSES HAUS, WASHINGTON, D.C.
MITTWOCH, 18. OKTOBER 1961
Während eines ansonsten recht geselligen Mittagessens im Weißen Haus für etwa fünfundzwanzig texanische Zeitungsleute forderte der konservative Verleger der Dallas Morning News, E.M. »Ted« Dealey, den US-Präsidenten plötzlich heraus: »Wir können Russland auslöschen, und das sollten wir der sowjetischen Regierung auch deutlich machen.« 19
Danach zog er eine aus fünfhundert Wörtern bestehende
Weitere Kostenlose Bücher