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Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt

Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt

Titel: Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frederick Kempe
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waren der nordvietnamesische Präsident Ho Chi Minh, der rotchinesische Ministerpräsident Tschou En-lai, die einundsiebzigjährige US-amerikanische Aktivistin der Arbeiterbewegung Elizabeth Gurley Flynn, die aus dem Spanischen Bürgerkrieg berühmte »Pasionaria« Dolores Ibárruri und János Kádar, der ungarische Parteichef, der 1956 bei der Niederschlagung des Volksaufstands in seinem Land maßgeblich mitgeholfen hatte. Sie alle betraten den Saal unter einem riesigen Flachrelief Lenins vor einem purpurroten Hintergrund.
    Die westlichen Reporter nannten Chruschtschow gewohnheitsmäßig den »absoluten Führer« der Sowjetunion. Tatsächlich war die Wahrheit jedoch viel komplizierter. Nach nur einem Jahr an der Macht hatte Chruschtschow im Jahr 1957 einen Parteiputsch gerade glimpflich überstanden. Nach dem U-2-Zwischenfall und dem Scheitern des Pariser Gipfels im Mai 1960 begannen sich einige Altstalinisten gegen Chruschtschow zusammenzuschließen. Insbesondere schossen sie sich gegen den ihrer Meinung nach unverantwortlichen Abbau der sowjetischen Streitkräfte, seine Entfremdung vom kommunistischen China und seine Avancen gegenüber den imperialistischen Amerikanern ein. Indem er die vorfabrizierten Resolutionen möglichst schnell verabschieden ließ, gelang es Chruschtschow jedoch, potenzielle Gegenströmungen, die sein politisches Ende hätten einläuten können, im Keim zu ersticken.

    Trotzdem waren die drei amerikanischen Hauptgegner Kennedys – der republikanische Senator von Arizona Barry Goldwater, der Gouverneur von New York Nelson Rockefeller und der ehemalige Vizepräsident Richard Nixon – ausgesprochen schwach im Vergleich zu Chruschtschows weit weniger sichtbaren, aber viel gefährlicheren Opponenten, die ihre politische Erziehung in Stalins blutigsten Zeiten genossen hatten.
    Obwohl er seine Parteistellung Chruschtschow verdankte, war das Präsidiumsmitglied Frol Koslow ein gutes Beispiel für die Sorte von Strolchen, die nach dem Fehlschlag des Pariser Gipfels gegen den Sowjetführer zu konspirieren begannen. 16 Er war ungebildet, kleinwüchsig, fett, rüpelhaft, ein Stalinist durch und durch und ein erbitterter Feind des Westens. Der amerikanische Diplomat Richard Davies beschrieb ihn als »einen widerlichen Trunkenbold, der aß wie ein Schwein und soff wie ein Loch«. Chruschtschow hatte es aber auch mit Michail Suslow zu tun, dem Chefideologen und -denker der Partei, einem geschmeidigeren, dafür aber umso skrupelloseren Feind.
    Im ganzen Jahr 1961 hatte Chruschtschow seine Machtposition durch Gunstbezeugungen, parteiinterne Säuberungen und Besuchsreisen zu regionalen Parteiführern im ganzen Land gefestigt. Gagarin als erster Mensch im All, die Schweinebucht, der Wiener Gipfel und die Grenzschließung in Berlin hatten seine Gegner ebenfalls erst einmal zum Schweigen gebracht. Dem Parteisekretär von Moskau, Pjotr Demitschew, kam es so vor, als ob Chruschtschow gerade eine seltene »Zeit an der Sonne« genieße. 17 Das Time- Magazin drückte es folgendermaßen aus: »In den vierundvierzig Jahren und fünfzehn Parteitagen seit der Oktoberrevolution 1917 erschien die innere Hierarchie des Kommunismus noch nie stabiler oder erfolgreicher als heute.«
    Trotzdem wusste Chruschtschow besser als jeder andere, wie verwundbar seine Stellung tatsächlich war. Trotz all seiner Anstrengungen, den Kommunismus in Afrika und Asien zu verbreiten, war unter seiner Führung nur Kuba dem sozialistischen Lager beigetreten, und dies mehr aus Glück als aufgrund einer erfolgreichen Planung. Einige Parteigrößen würden ihm seine Brandmarkung Stalins nie vergeben, die sie nicht nur als Angriff auf den ehemaligen Diktator, sondern auf die gesamte kommunistische Geschichte und Legitimität betrachteten. Peking blieb gegenüber Chruschtschow weiterhin auf Distanz. Der Leiter der chinesischen Delegation, Tschou En-lai, verließ verärgert vorzeitig den Parteitag, nachdem er an Stalins Grab noch einen Kranz niedergelegt hatte.
    Immerhin sah Chruschtschow schlanker und fitter als seit Monaten aus, als ob er für diesen Augenblick trainiert hätte. »Ich schlage vor, wir fangen mit
der Arbeit an«, erklärte er der Versammlung, wobei seine Aussagen simultan in neunundzwanzig Sprachen übersetzt wurden. »Der XXII. Parteitag ist hiermit eröffnet.« 18
    Bild 26
    18. Oktober: Chruschtschow schockiert die ganze Welt auf de XXII. Parteitag mit seiner Ankündigung, dass er in einem Test die größte Atombombe der

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