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Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt

Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt

Titel: Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frederick Kempe
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»ausschwärmen und in niedriger Höhe an mehreren Punkten unentdeckt in den sowjetischen Frühwarnperimeter
eindringen, danach ihre Bomben abwerfen und sich in niedriger Höhe wieder zurückziehen« würden.
    Kaysen räumte ein, dass noch mehr Untersuchungen und Manöver nötig seien, um seine Annahmen zu überprüfen. »Zwei Fragen stellen sich sofort bei diesem Konzept«, schrieb er. »Wie gültig sind dessen Annahmen, und sind wir imstande, einen solchen Angriff durchzuführen?« Seiner Ansicht nach waren die Annahmen vernünftig, und die Vereinigten Staaten verfügten über die dazu nötigen Mittel. »Obwohl es natürlich verschiedene Möglichkeiten für den Ausgang des Unternehmens gibt, ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass wir einen beträchtlichen Erfolg erzielen werden.«
    Wenn man fehlerhafte Bombenabwürfe vermeiden würde, rechnete Kaysen vor, könnte man die Zahl der sowjetischen Toten bei diesem ersten Angriff auf eine Million und vielleicht sogar auf nur 500 000 begrenzen. Dies sei zwar immer noch entsetzlich, aber doch bedeutend weniger als die Annahme des SIOP-62, dass 54 Prozent der sowjetischen Bevölkerung, also mehr als 100 Millionen Menschen, einem Angriff zum Opfer fallen würden.
    Im Weißen Haus, wo man an solche freimütigen Diskussionen über Opferzahlen nicht gewöhnt war, wirkte Kaysens Bericht wie ein Schock. 21 Chefberater Ted Sorensen schrie Kaysen an: »Sie sind verrückt! Wir sollten Typen wie Sie hier gar nicht hereinlassen!« Marcus Raskin, ein Freund Kaysens im Nationalen Sicherheitsrat, sprach nie mehr ein Wort mit ihm, nachdem er von dem Bericht erfahren hatte. »Wie unterscheiden wir uns dann noch von den Leuten, die die Gasöfen vermessen haben, oder den Ingenieuren, die die Gleise für die Todeszüge in Nazi-Deutschland gebaut haben?«, fuhr er Kaysen an.
    Kennedy selbst hatte jedoch nicht die gleichen Vorbehalte, da er nach genau dieser Analyse gesucht hatte, die jetzt vor ihm lag. 22 »Die Entwicklungen in Berlin könnten uns mit einer Lage konfrontieren, wo wir im Fall eines Konflikts, der von der lokalen zur allgemeinen Kriegsebene eskaliert, die Initiative ergreifen wollen«, schrieb der US-Präsident in der Liste der Fragen, die er auf einem Treffen am 19. September behandelt wissen wollte, an dem General Taylor, General Lyman Lemnitzer, der Vorsitzende der Vereinigten Stabschefs, und General Thomas S. »Tommy« Power, der Kommandeur des Strategic Air Command (SAC), teilnehmen würden. Die Detailliertheit seiner Fragen unterstrich das wachsende Interesse und Verständnis des Präsidenten für alles, was mit Atomschlägen zu tun hatte. Kennedy bereitete sich offensichtlich innerlich auf einen Krieg vor.
    Frage Nr. 1: »Ist es möglich, kurzfristig einige Alternativen in den Plan
einzuarbeiten, damit wir in unterschiedlichen Situationen auf alternative Optionen zurückgreifen können?«, fragte Kennedy. Er wollte vor allem wissen, ob man auf die im Plan vorgesehene »Optimummischung« ziviler und militärischer Ziele verzichten könnte und sich unter gewissen Umständen bei den Angriffen städtische Ziele aussparen ließen oder man auch China oder die europäischen Satellitenstaaten von der Zielliste streichen könnte. »Wenn ja, mit welchem Risiko?«
    Frage Nr. 2: Wenn die Entwicklungen in Berlin Kennedy in die Lage bringen würden, einen lokalen in einen allgemeinen Krieg ausweiten zu wollen, war dann ein Erstschlag gegen die sowjetischen nuklearen Langstreckenwaffen durchführbar?
    Frage Nr. 3: Kennedy hegte die Befürchtung, dass ein Überraschungsangriff auf die Langstreckenschlagkraft der Sowjetunion eine »beträchtliche Anzahl« von Mittelstreckenraketen übrig ließe, die danach Ziele in Europa treffen könnten. Er wollte also die Kosten des Schutzes der Vereinigten Staaten und Europas gegeneinander abwägen. Deshalb fragte er auch, ob eine Einbeziehung dieser Mittelstreckenwaffen in den ersten Angriff »die Zielliste dermaßen erweitern würde, dass eine taktische Überraschung nicht mehr möglich wäre«.
    Frage Nr. 4: »Ich bin besorgt, ob und wie ich unsere militärischen Einsätze noch kontrollieren kann, wenn der Krieg einmal begonnen hat«, schrieb Kennedy. »Ich nehme an, dass ich den strategischen Angriff jederzeit stoppen kann, sollte ich erfahren, dass der Feind kapituliert hat. Stimmt das?«
    Er stellte noch vier weitere, ähnlich gelagerte Fragen. So wollte er wissen, ob sich »überflüssige Zerstörungen« vermeiden ließen und ob er

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