Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt
falschen Alarm, der aufgrund einer »absichtlichen Finte« Chruschtschows oder einer »Fehlinterpretation der Ereignisse« auf einer der beiden Seiten ausgelöst werden könnte. Er argumentierte: »Wenn die gegenwärtige Spannungslage wegen Berlin noch einige Monate andauert, ist zu erwarten, dass zu irgendeiner Zeit eine sowjetische Aktion mit genügender Wahrscheinlichkeit und Dringlichkeit einen Angriff auf die Vereinigten Staaten androhen« und dann einen nuklearen Gegenschlag auslösen würde.
Das Problem würde entstehen, wenn Kennedy eine nukleare Entscheidung zurücknehmen wollte, weil er sich getäuscht hatte oder in die Irre geführt worden war. Nach Kaysens Ansicht gab ihm der bestehende Plan dazu fast keine Möglichkeit. Selbst ein erfolgreicher Rückruf würde Gefahren in sich bergen und die ausgesandten Kräfte für etwa acht Stunden außer Gefecht setzen, eine »Periode der Schwäche«, die Moskau ausnutzen könnte.
Das größere Problem, das durch Kennedys Untätigkeit im August noch verstärkt worden war, lag Kaysen zufolge jedoch darin, dass der US-Präsident die massive nukleare Vergeltung niemals akzeptieren würde, die nötig wäre, um einen konventionellen Angriff auf die Bundesrepublik oder Westberlin zurückzuschlagen. Deshalb stellte er die entscheidende Frage: »Ist der Präsident bereit, diese Entscheidung zu treffen? In diesem Fall ist ein sowjetischer Vergeltungsschlag unvermeidlich, und er wird sich höchstwahrscheinlich gegen unsere großen Städte und die unserer europäischen Verbündeten richten.«
Die klare Botschaft war, dass Kennedy in seinem zehnten Amtsmonat einer Berlin-Krise gegenüberstand, die immer schlimmer zu werden drohte, und er dafür einen strategischen Plan hatte, den er ziemlich sicher nicht umsetzen würde. Kaysen gab zu bedenken, dass es die gegenwärtige Berlin-Krise nötig erscheinen lasse, über einen Erstschlagplan nicht nur unverbindlich nachzudenken,
der dann zum Einsatz käme, wenn sich die Lage auf dem Boden gegen die Vereinigten Staaten wenden würde.
»Unter diesen Umständen ist etwas völlig anderes erforderlich«, schrieb er. »Wir sollten bereit sein, einen allgemeinen Krieg mit unserem Erstschlag zu beginnen, der genau für diesen Fall geplant sein muss, anstatt, wie bisher vorgesehen, zu einer Strategie der massiven Vergeltung zu greifen. Wir sollten die kleinstmögliche Liste von Zielen wählen und uns dabei auf die Langstreckenschlagfähigkeit der Sowjets konzentrieren und so weit wie möglich Opfer und Zerstörungen in der sowjetischen Zivilgesellschaft vermeiden.«
Gleichzeitig sollten die Amerikaner »einen beträchtlichen Teil unserer eigenen strategischen Einsatzmittel in Reserve halten«. Chruschtschow werde angesichts deren Schlagkraft davor zurückschrecken, seine verbliebenen Raketen und Bomber gegen die amerikanischen Bevölkerungszentren einzusetzen. Außerdem setzte Kaysen darauf, dass die Bemühungen der Vereinigten Staaten, die Zahl der sowjetischen Zivilopfer möglichst klein zu halten, den Rachedurst des Feindes dämpfen würden, der zu einer Erweiterung des Kriegs führen könnte. Danach entwickelte Kaysen in allen Einzelheiten einen »wirksameren und weniger verheerenden« Plan als SIOP-62 für den Fall, dass die gegenwärtige Berlin-Krise »zu einem größeren Rückschlag am Boden in Westeuropa« führen würde.
Kennedy bekam jetzt, wonach er den meisten Teil dieses Jahres verlangt hatte: die Idee eines vernünftigeren Atomkriegs. Er würde es ihm erlauben, die Langstreckenschlagkraft der Sowjetunion zu zerstören und dabei den Schaden für die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten geringer zu halten.
Kaysen führte dann die Einzelheiten des Plans auf, die Kennedy immer wieder durchlesen würde, bevor er darauf reagierte. Amerikanische strategische Fernbomber würden in kleiner Zahl, weit zerstreut und in geringer Höhe fliegend, um nicht abgefangen zu werden, die geschätzten 46 Stützpunkte in der Sowjetunion und 26 Sammelstützpunkte der sowjetischen nuklearen Bomberflotte sowie die bis zu acht Abschussbasen der Interkontinentalraketen mit zwei Zielpunkten für jeden Zielort angreifen. Insgesamt würde der Erstschlag 88 Ziele ausschalten.
Kaysen schätzte, dass für diesen Angriff 55 Bomber, vor allem B-47 und B-52, nötig wären, wobei er eine 25-prozentige Ausfallquote einrechnete, sodass die geforderten 41 Flugzeuge übrig blieben. Man könne mit einer solch geringen Zahl von Flugzeugen Erfolg haben, weil sie
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