Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt
nachfolgende Waffen zurückrufen könnte, wenn die erste Atombombe bei einem Ziel bereits »das gewünschte Ergebnis« erzielt hätte. Wenn sich herausstellen sollte, dass seine Einsatzentscheidung auf einem falschen Alarm beruhte, wollte er seine Optionen erfahren, den Angriff noch aufhalten zu können.
Der am nächsten Tag stattfindenden Sitzung des Nationalen Sicherheitsrats gelang es jedoch nicht, auf viele Fragen des Präsidenten klare Antworten zu finden. 23 Sie zeigte auch, wie weit die Meinungen der Kennedy-Berater über die Führbarkeit eines begrenzten Atomkriegs auseinandergingen. General Tommy Power vom Strategic Air Command lehnte sich dabei weit aus dem Fenster: »Jetzt und im nächsten Jahr ist die Gefahr eines sowjetischen Überraschungsangriffs am größten. Wenn ein allgemeiner Atomkrieg unvermeidlich ist, sollten die Vereinigten Staaten als Erste zuschlagen«, nachdem sie die wichtigsten sowjetischen Nuklearziele festgelegt hätten.
Power hatte im März 1945 die Brandbombenangriffe auf Tokio geleitet. 24 Während der Atombombenabwürfe auf Hiroschima und Nagasaki war er stellvertretender Operationsleiter des Strategic Air Command in der Pazifikregion gewesen. Er unterstützte General Curtis E. LeMay beim Aufbau des Strategic Air Command, dem er 1948 beigetreten war. Beide machten es dann zu ihrem eigenen kleinen Reich. Knallhart und leicht aufbrausend, glaubte Power, dass es nur einen einzigen Weg gab, die nuklear bewaffneten Kommunisten in Schach zu halten. Sie mussten glauben, dass sie vollkommen vernichtet würden, wenn sie nicht parierten.
Als man ihn einmal über die langfristigen Schäden aufklärte, die der radioaktive Niederschlag verursachte, erwiderte Power mit makabrem Humor: »Wissen Sie, bisher hat mir noch keiner bewiesen, dass zwei Köpfe nicht besser sind als einer.« Der Nationale Sicherheitsberater Bundy dachte an Power, als er Kennedy warnte, dass ein untergeordneter Kommandeur die Autorität habe, »auf eigene Faust einen thermonuklearen Krieg zu beginnen«, wenn er den Präsidenten nach einem sowjetischen Angriff nicht erreichen könne.
Power argumentierte gegenüber Kennedy, dass die Sowjets »ein Vielfaches mehr« an Raketen verbergen würden, als auf den Spionagefotos der CIA zu sehen sei. Er beklagte sich, dass ihm die nötigen Informationen über die sowjetischen Abschussrampen für ballistische Interkontinentalraketen fehlen würden. Er fügte hinzu, dass die Vereinigten Staaten seiner Ansicht nach nur 10 Prozent der Sowjetunion fotografisch erfasst hätten. Bisher habe man zwanzig Raketenabschussrampen lokalisieren können, aber es müsse in den nicht überwachten Regionen noch ein Mehrfaches davon geben. Da man also die wahre Größe der sowjetischen Raketenstreitkräfte nicht kenne, empfahl Power Kennedy dringend, die U-2-Flüge wiederaufzunehmen, deren dauerhafte Einstellung der US-Präsident Chruschtschow versprochen hatte.
Kennedy wischte Powers Ratschlag beiseite. Stattdessen wollte er seine Frage beantwortet wissen, ob er wirklich einen Überraschungsangriff auf die Sowjetunion beginnen könne, ohne einen vernichtenden Gegenschlag befürchten zu müssen. Er stellte den Generälen auch die Aufgabe, »mir eine Antwort auf diese Frage zu geben: Wie viel an Informationen braucht die Sowjetunion, und wie lange vorher braucht sie diese, um ihrerseits ihre Raketen zu starten?«
Martin Hillenbrand, dem Leiter der Deutschland-Abteilung im US-Außenministerium, fiel auf, dass mit jedem Tag, den die Berlin-Krise andauerte, Kennedy »von ihrer Komplexität und ihren Schwierigkeiten immer mehr beeindruckt wurde«. 25 Für frühere amerikanische Präsidenten war Krieg eine
grausame, aber notwendige Alternative zu der Barbarei der Nazis oder der japanischen Aggression gewesen. Für Kennedy war Krieg dagegen nach Hillenbrands Meinung »fast gleichbedeutend mit dem Problem des menschlichen Überlebens«.
Mit diesem Gefühl versammelte Kennedy am 10. Oktober Spitzenbeamte seiner Administration und hohe Militärs im Kabinettssaal, um die nuklearen Eventualfallplanungen für Berlin fertigzustellen. Der Staatssekretär im Verteidigungsministerium, Paul Nitze, hatte ein Dokument mitgebracht, das den gewundenen Titel Bevorzugter Gang der militärischen Ereignisse in einem Berlin-Konflikt trug.
Kühl und vernunftgeprägt war der vierundfünfzigjährige Nitze in außenpolitischen Fragen inzwischen zum vielleicht wichtigsten amerikanischen Strippenzieher hinter den Kulissen
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