Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt
nuklearen Abschreckung sowjetische Truppen dazu verleiten könnte, »die Grenze zu überschreiten und einen beträchtlichen Teil der Bundesrepublik zu besetzen«. Er
verglich diese Möglichkeit mit der Lage in China im Jahr 1947, als kommunistische Truppen das Festland eroberten. »Die Entscheidung, im Ernstfall auch Atomwaffen einzusetzen, muss den Sowjets ebenso mitgeteilt werden wie die Tatsache, dass die Sowjetunion selbst deren Ziel sein würde«, sagte Grewe.
Kennedy verhehlte nicht seine wachsende Ungeduld über Verbündete, die ihn unbedingt belehren wollten, welche Risiken für Leib und Leben er seinen Landsleuten wegen Berlin zumuten müsse. Er log, als er Grewe mitteilte, er freue sich auf den Besuch Adenauers, der für Mitte November geplant war, und er hoffe, man könne in der Politik gegenüber den Sowjets einen gemeinsamen Nenner finden. Außerdem bedauere er die Andeutungen in Presseberichten, dass beide Seiten sich über die Aufnahme von Gesprächen mit Moskau uneins seien. Tatsächlich wolle er Chruschtschows anscheinend flexibler gewordene Vorstellungen über ein freies Westberlin sondieren. »Ich persönlich würde mich besser fühlen, wenn wir dies tun, bevor wir zu nuklearen Schritten greifen«, gab er Grewe zu verstehen.
Dann beklagte sich Kennedy, dass de Gaulle »offensichtlich meint, jedes Entgegenkommen gegenüber den Sowjets sei ein Zeichen von Schwäche«.
Grewe wusste, dass Adenauer genauso dachte. Wie de Gaulle gefielen Adenauer die Gespräche zwischen Rusk und Gromyko ganz und gar nicht. 28 Grewe meinte dann noch, Adenauer sorge sich, dass die USA ihre traditionelle Unterstützung der deutschen Einheit durch ihre De-facto-Anerkennung der DDR, ihre Anregung engerer Kontakte zwischen den beiden deutschen Staaten und ihre fehlende Unterstützung für das Endziel einer deutschen Wiedervereinigung durch freie Wahlen aufgeben könnten.
Genervt von diesen ewig gleichen Klagen erwiderte Kennedy, dass die Vereinigten Staaten und Deutschland in ihrem Umgang mit den Sowjets »nach neuen Ansätzen suchen sollten«. Dann erklärte er Grewe, dass er eine Wiedervereinigung in absehbarer Zukunft nicht für wahrscheinlich halte und auch nicht glaube, dass die Alliierten, was die Lage in Westberlin angehe, völlig unbeweglich bleiben sollten. Er suche nach Wegen, um den gegenwärtigen Status der Stadt zu verbessern. Dafür wolle er Adenauers Hilfe und Unterstützung.
Grewe wusste sehr wohl, wie gering Adenauer Kennedys Glauben an »neue Ansätze« einschätzte. Er führte jedoch lieber de Gaulles Ansicht an, dass es gegenwärtig keine praktikable Möglichkeit einer Verbesserung des Verhältnisses zu den Sowjets gebe, da Moskau im Augenblick nach weiteren Konzessionen strebe, denen sich der Westen unbedingt widersetzen müsse. Dann listete
er Kennedy detailliert auf, was die Grenzschließung die Deutschen und Adenauer bisher gekostet habe.
Vor dem 13. August habe es in Berlin täglich im Durchschnitt 500 000 Grenzübertritte von Familien, Freunden und Arbeitern gegeben. Dies habe eine enge Verbindung zwischen den beiden Stadtteilen und ihren Bewohnern hergestellt. Inzwischen sei diese Zahl auf etwa 500 gesunken. Wegen seiner »zurückhaltenden und maßvollen« Reaktion auf den Mauerbau habe Adenauer seine absolute Mehrheit eingebüßt und die Wahl vor etwas über einem Monat beinahe verloren.
Jetzt erinnerte Kennedy Grewe daran, dass die Alternative zu Berlin-Gesprächen mit den Sowjets »die durchaus reale Aussicht auf eine militärische Auseinandersetzung« sei. Die Vereinigten Staaten würden Berlin auf keinen Fall aufgeben. Andererseits wolle er sicher sein, »wenn wir an das Ende des Weges gelangen«, dass sich niemand dann frage, ob sich der Einsatz von Gewalt nicht durch einen größeren Nachdruck auf Verhandlungen hätte vermeiden lassen. Voller Ungeduld gab Kennedy Grewe zu verstehen, dass die Deutschen nicht einfach alle US-Ideen ablehnen könnten, sondern »ihre eigenen Vorschläge, die für sie akzeptabel wären, vorlegen sollten«.
Getroffen meinte Grewe, dass die Bundesdeutschen durchaus nach Wegen suchten, wie sich die Lage in Berlin verbessern ließe. Sie glaubten allerdings nicht, dass dieses Ziel im Moment erreichbar sei. So sei auch die Vorstellung zu verwerfen, die er von einem Mitglied der Kennedy-Administration gehört habe, Berlin zum Sitz des UN-Hauptquartiers zu machen. Man könne eine derart weit hergeholte Idee höchstens als einleitenden Schachzug bei Verhandlungen
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