Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt
aufgepflanzt war. 30
Vor allem machte sich der vierundzwanzigjährige amerikanische Militärpolizist um seine zwanzigjährige Frau Renny Sorgen, die mit Zwillingen hochschwanger war. Pike hatte sich dagegen entschieden, sie zum Weihnachtsfest nach Hause zu schicken, da sie nicht so lange getrennt sein wollten, aber jetzt erschien ihm sein Entschluss verantwortungslos. Das war auf seine zweite Befürchtung zurückzuführen. Pike wusste aus seiner Ausbildung, dass sich die Szene, die sich vor ihm auftat, zu einem Krieg ausweiten konnte, vielleicht sogar zu einem Nuklearkrieg, der alles mit sich reißen würde, ihn, seine junge Frau und ihre ungeborenen Zwillinge, gar nicht zu reden von einem Großteil des Planeten. Alles, was es dazu brauchte, war ein einziger nervöser amerikanischer oder sowjetischer Finger am Abzug, dachte er bei sich.
Es war kurz nach 21 Uhr, und zehn amerikanische M-48-Patton-Panzer standen kampfbereit am Übergang Friedrichstraße. Genau gegenüber war etwa hundert Schritte entfernt die gleiche Anzahl sowjetischer T-54-Panzer in Stellung gegangen. Der Showdown hatte einige Stunden früher am Nachmittag begonnen, als US-Panzer zur Grenze gerollt waren, um wie an den beiden vorangegangenen Tagen Militäreskorten Deckung zu geben, die inzwischen fast routinemäßig amerikanische Zivilfahrzeuge nach Ostberlin begleiteten.
Um genau 16:45 Uhr hatten nach einer weiteren erfolgreichen und ohne Zwischenfälle verlaufenen Begleitoperation die US-Kommandanten vor Ort den amerikanischen Panzern befohlen, sich in die Luftwaffenbasis Tempelhof zurückzuziehen. Pike, dessen Militärpolizeizug den Checkpoint Charlie überwachte, machte dann zusammen mit Major Thomas Tyree, dem Kommandanten der Panzereinheit, eine kleine Zigarettenpause. Aus der Wärme der Drogerie an der Ecke Friedrichstraße/Zimmerstraße schauten sie durch das Schaufenster nach Osten. Plötzlich glaubten sie, ihren Augen nicht zu trauen.
»Sehen Sie, was ich sehe?«, fragte Tyree Pike.
»Sir, das sind Panzer!«, erwiderte Pike aufgeregt. »Und es sind nicht unsere. «
Bild 62
Einer von mehreren amerikanischen Panzern fährt am Checkpoint Charlie auf.
Er schätzte, dass sie nicht mehr als 70 bis 100 Meter von ihnen entfernt standen.
Obwohl sie wie ganz neue sowjetische T-54-Panzer aussahen, hatte man ihre nationalen Hoheitszeichen so verschmiert, dass diese nicht mehr zu erkennen waren. Noch mysteriöser war jedoch, dass ihre Besatzungen kennzeichenlose schwarze Uniformen trugen. Wenn dies tatsächlich Sowjetsoldaten sein sollten – und es war schwer vorstellbar, dass sie etwas anderes waren –, wollten sie dies aus irgendwelchen Gründen verhehlen.
»Vern«, sagte Tyree. »Ich weiß nicht, wessen Panzer das sind, aber Sie müssen, verdammt noch mal, sofort nach Tempelhof rausfahren und meine Panzer, so schnell es geht, zurückholen.«
»Jawohl, Sir«, sagte Pike und schaute auf die Uhr. Die US-Panzer waren erst vor zehn Minuten losgerollt. Es würde also nicht lange dauern, bis er sie eingeholt hätte. Er sprang in seinen Militärpolizeiwagen, einen weißen Ford, und raste mit heulender Sirene durch den freitagnachmittäglichen Berufsverkehr. Auf dem Dach drehte sich sein »Kaugummiautomat«, wie er sein Signallicht nannte. Schließlich holte er die Panzer ein, als sie gerade an ihrem Stützpunkt angekommen waren.
Pike schrie aus dem Fahrerfenster zum Führungspanzer hinüber, der von seinem Berliner Nachbarn, Hauptmann Bob Lamphir, befehligt wurde: »Sir, es gibt Probleme am Checkpoint Charlie. Folgen Sie mir. Wir müssen so schnell wie möglich dorthin zurückkehren!«
»Whoopee!«, schrie Lamphir. Dann befahl er allen Panzern, umzukehren und zurück zur Grenze zu fahren. Pike erinnerte sich noch viele Jahre später an das eigenartige Hochgefühl, das sich trotz oder wegen der drohenden Gefahr seiner bemächtigte. »Hier sind wir um fünf Uhr mitten im Nachmittagsberufsverkehr an einem Oktoberfreitag in Berlin, rasen den Mariendamm hinunter Richtung Checkpoint Charlie, und mein kleines MP-Auto fährt vorneweg und macht Tatütata. Und jeder Berliner in Sichtweite macht, dass er aus dem Weg kommt.«
Kurz bevor die amerikanischen Panzer um 17:25 Uhr wieder auf der Bildfläche erschienen, hatten sich die sowjetischen Panzer in einen Bereitschaftsraum auf einem freien Trümmergrundstück in der Nähe von Ostberlins Boulevard Unter den Linden zurückgezogen. Wenn man von der potenziellen Gefahr absah, hatte die Szene etwas von
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