Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt
eine Kopie auch für Clay bestimmt.
»Die Sondierungsmissionen haben ihren Zweck erfüllt«, log Rusk. Kennedy und Clay hätten das Auftauchen sowjetischer Panzer an der Grenze zu ihrem Sieg erklären können, weil es bewies, dass die Sowjetunion und nicht die DDR immer noch die Zustände in Ostberlin kontrollierte.
Aber das Telegramm machte klar, dass Rusk die weiße Fahne hisste. Es hieß darin: »Weitere sondierende Grenzübertritte von US-Personal in Zivilkleidung und offiziellen US-Fahrzeugen oder Privatfahrzeugen mit US-Kennzeichen, die von bewaffneten Wachmannschaften oder Militäreskorten begleitet werden, sind vorerst einzustellen.«
Für alle, die die Hintergründe seiner Entscheidung vielleicht noch nicht verstanden hatten, machte Rusks nächste Anordnung deutlich, dass Kennedy jede weitere Konfrontation mit der DDR oder der Sowjetunion vermeiden
wollte. »US-Zivilbeamte und -angestellte werden bis auf weiteres davon absehen, Ostberlin zu betreten. Nur ein einziger Zivilbeamter wird täglich versuchen, in einem Privatfahrzeug ohne bewaffnete Eskorte nach Ostberlin hineinzufahren. «
Clay sollte noch ein paar Monate in Berlin bleiben, aber seine Gegner hatten gewonnen. Rusk machte das noch einmal klar, als er schrieb: »Vor Ort kann einstweilen nichts weiter getan werden, da die Angelegenheit jetzt auf höchster Regierungsebene behandelt wird. […] Es wurde bereits Anweisung erteilt, jede weitere Sondierungsfahrt mit bewaffneten Eskorten nach Ostberlin vorerst einzustellen.«
Selbst ein so hartnäckiger Mann wie Clay wusste jetzt, dass er einen Rückzieher machen musste.
KONGRESSPALAST, MOSKAU
SAMSTAGMORGEN, 28. OKTOBER 1961
Nach einer spannungsreichen Nacht an der durch Berlin verlaufenden Grenze suchte Marschall Konew im fernen Moskau Chruschtschow auf, dessen langer Parteitag noch zwei weitere Tage dauern würde. 45 Konew berichtete dem Sowjetführer, die Lage in Berlin sei unverändert. Nichts bewege sich, »außer den Panzerbesatzungen auf beiden Seiten, die aus ihren kalten Kästen steigen und ein wenig herumlaufen, um sich aufzuwärmen«.
Chruschtschow wies Konew an, seine Panzer als Erster abzuziehen. »Ich bin mir sicher, dass auch die amerikanischen Panzer innerhalb von zwanzig Minuten oder wie lange auch immer es dauert, bis sie ihre Befehle bekommen, abrücken werden«, sagte er mit dem Vertrauen eines Mannes, der soeben erst einen Handel abgeschlossen hatte.
»Sie können ihre Panzer nicht abziehen, solange unsere Kanonen auf sie gerichtet sind«, sagte Chruschtschow. »Sie haben sich in eine schwierige Lage gebracht und wissen jetzt nicht, wie sie da wieder herauskommen. […] Also sollten wir ihnen dazu eine Gelegenheit geben.«
Kurz nach 10:30 Uhr an diesem Samstagmorgen rückten die ersten sowjetischen Panzer vom Checkpoint Charlie ab. 46 Einige von ihnen waren mit Blumen und Girlanden bedeckt, mit denen Mitglieder der Freien Deutschen Jugend sie an diesem Morgen geschmückt hatten.
Nach einer weiteren halben Stunde zogen sich auch die amerikanischen Panzer zurück.
Damit ging der gefährlichste Moment des Kalten Kriegs auf recht unspektakuläre Weise zu Ende. Allerdings würden die Nachwirkungen der Berliner Ereignisse des Jahres 1961 noch lange anhalten. Sie würden ein Jahr später in Kuba die Welt erschüttern – und sie würden die Welt in den nächsten drei Jahrzehnten prägen.
EPILOG
Nachbeben
Ich bin mir völlig darüber im Klaren, dass es womöglich Chruschtschows
Hauptabsicht ist, seine Erfolgschancen in Berlin zu erhöhen, und wir sollten
bereit sein, uns auch dort ebenso wie in der Karibik voll und ganz einzusetzen.
Ausschlaggebend ist in diesem Moment der schwersten Prüfung,
dass Chruschtschow merken sollte, dass er sich verrechnet hat, falls er auf
unsere Schwäche oder Unentschlossenheit gezählt hatte.
US-PRÄSIDENT KENNEDY IN EINEM GEHEIMEN TELEGRAMM,
IN DEM ER DEN BRITISCHEN PREMIER HAROLD MACMILLAN ÜBER
FOTOGRAFISCHE HINWEISE AUF RAKETEN IN KUBA INFORMIERTE,
21. OKTOBER 1961 1
Wenn es in der Welt Menschen geben sollte, die nicht verstehen oder
nicht zu verstehen vorgeben, worum es heute in der Auseinandersetzung
zwischen der freien Welt und dem Kommunismus geht,
dann können wir ihnen nur sagen, sie sollen nach Berlin kommen.
Es gibt Leute, die sagen, dem Kommunismus gehöre die Zukunft.
Sie sollen nach Berlin kommen.
Und es gibt wieder andere in Europa und in anderen Teilen der Welt,
die behaupten, man könne mit dem Kommunismus
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