Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt
Recht: »Leider werden wir nie erfahren, ob die Geschichte nicht auch anders hätte verlaufen können.« Aber die Geschichte bietet uns unmissverständliche Hinweise. Wir werden nie wissen, ob ein resoluteres Auftreten Kennedys den Kalten Krieg womöglich früher beendet hätte. Es steht jedoch außer Frage, dass Kennedys Handlungsweise es der DDR-Führungsriege ermöglichte, eben jenen Flüchtlingsstrom zu stoppen, der achtundzwanzig Jahre später die Auflösung des Landes bewirken sollte. Und aus den historischen Fakten geht ferner eindeutig hervor, dass Kennedys Handlungen
im Jahr 1961 nie in erster Linie von dem Wunsch beseelt waren, die Freiheit Berlins zu erhalten.
In seinem ersten Amtsjahr lenkte Kennedy sein Augenmerk nicht darauf, den Kommunismus in Europa zurückzudrängen, sondern versuchte verzweifelt, dessen Ausbreitung auf die Dritte Welt zu verhindern. Mit Blick auf Berlin war seine größte Sorge, Instabilität und Fehleinschätzungen zu vermeiden, die einen Nuklearkrieg hätten auslösen können. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern, den Präsidenten Eisenhower und Truman, hielt er weder von Bundeskanzler Konrad Adenauer noch von seinem Traum von der deutschen Wiedervereinigung sonderlich viel.
Der vielleicht beste Richter für Kennedys schwache Vorstellung im Jahr 1961 war der Präsident selbst. Im privaten Kreis sprach er ganz offen über seine Fehler im Zusammenhang mit der Invasion in der Schweinebucht und dem Wiener Gipfeltreffen. Als Elie Abel, der Reporter der Detroit News, am 22. September – mehr als einen Monat nach der Schließung der Grenze – Kennedy um die Zusammenarbeit bei einem Buch bat, das er über dessen erste Amtszeit schreiben wollte, antwortete der Präsident: »Warum sollte jemand ein Buch über eine Regierung schreiben wollen, die bisher nichts außer einer langen Kette von Katastrophen vorzuweisen hat?«
Es war ein erfrischender Beweis der Selbstkritik angesichts eines Jahres, das von Kennedys Inkonsequenz, Unentschlossenheit und gescheiterter Politik geprägt war.
In seinem Wahlkampf hatte Kennedy zwar stets frische Ideen und den dringend notwendigen Wandel hervorgehoben, aber wenn es um Berlin ging, legte er größeren Wert darauf, den fragilen Status quo zu erhalten. Er glaubte, dass man sich mit der schwierigen Lage in Berlin erst nach einem vertrauensbildenden Prozess von Verhandlungen über ein Atomteststoppabkommen und andere Maßnahmen hinsichtlich der Rüstungskontrolle befassen konnte.
In den ersten Tagen seiner Amtszeit versäumte Kennedy es jedoch, die beste Gelegenheit für einen Durchbruch bei den Beziehungen, die sich ihm bot, beim Schopf zu packen, weil er wie ein Amateur Chruschtschows Signale falsch deutete. Der sowjetische Führer hatte über eine Reihe unilateraler Aktionen, zu der auch die Freilassung der inhaftierten US-Piloten am Morgen von Kennedys Amtseinführung zählte, eine neue Bereitschaft demonstriert, mit den Vereinigten Staaten zusammenzuarbeiten. Stattdessen gelangte Kennedy zu dem Schluss, dass Chruschtschow den Kalten Krieg verschärfe, um ihn auf die Probe
zu stellen. Weitgehend stützte sich diese Schlussfolgerung auf eine Überbewertung der scharfen Worte einer routinemäßigen Rede Chruschtschows, um die Propagandisten der Partei hinter sich zu scharen.
Darauf folgte Kennedys Panikmache in seiner Rede zur Lage der Nation. Mit erheblicher Übertreibung teilte der US-Präsident seinem Land mit, was er in weniger als zwei Wochen im Amt erfahren und ihn dazu veranlasst hatte, den weit zurückhaltenderen Ton seiner Antrittsrede zu ändern:
Jeden Tag vermehrt sich die Zahl der Krisen. Jeden Tag wird es schwieriger, sie zu lösen. Jeden Tag rücken wir der Stunde höchster Gefahr ein Stück weit näher. Ich glaube, den Kongress über die Analysen in Kenntnis setzen zu müssen, die wir in den letzten zehn Tagen vorgenommen haben: In jedem der Hauptkrisengebiete sind uns die Ereignisse davongelaufen – und die Zeit hat nicht für uns gearbeitet.
Der sinnfällige Augenblick für die Unentschlossenheit in Kennedys erstem Amtsjahr kam mit dem Debakel in der Schweinebucht im April, als der US-Präsident eine Operation, die die Eisenhower-Administration ersonnen hatte, weder absagte, noch ihr die nötigen Ressourcen für einen Erfolg versprechenden Ausgang zur Verfügung stellte. Von diesem Punkt an fürchtete Kennedy zu Recht, dass Chruschtschow ihn für schwach hielt, insbesondere mit Blick auf das weit resolutere Vorgehen des
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