Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt
nicht alle, aber schrecklich viele Menschenleben würden ausgelöscht werden. […] Und es war höchste Zeit, dass Amerika merkte, wie einem zumute ist, wenn das eigene Land und das eigene Volk bedroht werden. 22
Von allen Maßnahmen Chruschtschows in jener Phase, die eine Verbindung zwischen Kuba und Berlin herstellten, war der Bau einer oberirdischen Ölpipeline quer durch die DDR, um die Treibstoffversorgung für sowjetische Truppenverlegungen an die westdeutsche Grenze zu gewährleisten, die wohl auffälligste. Die Rohre signalisierten Präsident Kennedy unmissverständlich, dass Chruschtschow bereit wäre, bei einem Rückschlag auf Kuba einen Krieg um Berlin zu führen. 23
Dazu Chruschtschow später: »Die Amerikaner wussten, dass, falls russisches Blut auf Kuba vergossen würde, mit Sicherheit amerikanisches Blut in Deutschland vergossen werden würde.« 24
Kennedys Worte und Taten in den dreizehn Tagen der Kuba-Krise vom 16. bis zum 29. Oktober 1962 unterstrichen seine Überzeugung, dass Chruschtschows Kuba- und Berlin-Strategien eng miteinander verknüpft waren. Von Anfang an mutmaßte der US-Präsident, dass Chruschtschows Kuba-Strategie letztlich die Einnahme Berlins zum Ziel hatte, was für den sowjetischen Ministerpräsidenten eine viel höhere Priorität hatte. Somit sagte Kennedy den Vereinigten Stabschefs:
Lassen Sie mich zunächst ein paar Worte über den Kern des Problems aus meiner Sicht sagen. Ich denke, wir sollten uns überlegen, warum die Russen das gemacht haben. In Wirklichkeit ist es ein sehr riskantes, aber sehr nützliches Spiel ihrerseits. Wenn wir nichts unternehmen, dann verfügen sie dort über eine Raketenbasis mitsamt dem Druck, der dadurch auf die USA und ihr Ansehen ausgeübt wird. Wenn wir kubanische Raketen oder Kuba in irgendeiner Form angreifen, dann werten sie das als eindeutige Kampfansage und nehmen Berlin ein, genau wie sie während der Suez-Krise imstande waren, in Ungarn vorzugehen. Wir würden als die schießwütigen Amerikaner dastehen, die Berlin verloren haben. Wir hätten keinen Rückhalt unter unseren Bündnispartnern. Wir würden die Haltung der Westdeutschen uns gegenüber belasten. Und [die Menschen würden glauben], dass wir Berlin aufgeben, weil wir nicht den Mumm haben, die Situation auf Kuba zu bewältigen. Immerhin liegt Kuba 5000 oder 6000 Meilen von ihnen entfernt. An Kuba liegt ihnen im Grunde gar nichts. Aber es liegt ihnen etwas an Berlin und an ihrer eigenen Sicherheit. 25
Kennedys Entscheidung, im Jahr 1962 gegenüber den Sowjets in Kuba einen härteren Kurs als im Vorjahr in Berlin einzuschlagen, hatte mindestens drei Gründe: Erstens schwebten die Vereinigten Staaten selbst in einer weit größeren Gefahr, weil der Gefahrenherd viel näher am eigenen Land lag. Zweitens waren die innenpolitischen Risiken eines Fehlers auf Kuba mit Blick auf Kennedys Aussichten für eine Wiederwahl viel höher als bei dem fernen Berlin. Und drittens hatte Kennedy endlich gelernt, dass seine Demonstration der Schwäche Chruschtschow nur ermuntert hatte, ihn immer weiter auf die Probe zu stellen. Der sowjetische Ministerpräsident hatte ihn dreist an der Nase herumgeführt, als er erklärte, er werde Berlin-Gespräche auf einen Termin nach den Kongresswahlen verschieben, weil er lediglich Zeit für den Aufbau der Raketen gewinnen wollte.
Kennedy unterstrich noch einmal den Zusammenhang mit Berlin, als er den britischen Premierminister Harold Macmillan in einem geheimen Fernschreiben über die fotografischen Beweise für Raketen unterrichtete, das am 21. Oktober um 22:00 Uhr in London einging. Kennedy schrieb:
Ich bin mir völlig darüber im Klaren, dass es womöglich Chruschtschows Hauptabsicht ist, seine Erfolgschancen in Berlin zu erhöhen, und wir sollten bereit sein, uns auch dort, genauso wie in der Karibik, voll und ganz einzusetzen. Ausschlaggebend ist in diesem Moment der schwersten Prüfung, dass Chruschtschow merken sollte, dass er sich verrechnet hat, falls er auf unsere Schwäche oder Unentschlossenheit gezählt hatte. 26
In einer zweiten Nachricht an Macmillan nur einen Tag später brachte Kennedy erneut seine Besorgnis wegen Berlin zum Ausdruck, wenige Stunden vor seiner historischen Fernsehansprache, in der er die Amerikaner über die Gefahr informierte, die Sowjets aufforderte, die Raketen abzuziehen, und eine Seeblockade gegen Kuba verhängte. »Ich brauche Ihnen [Macmillan] wohl nicht die mögliche Beziehung dieses heimlichen und riskanten
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