Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt
darüber Aufschluss geben könnten, sind immer noch unter Verschluss.
Dessen ungeachtet ist die Übereinstimmung zwischen dem Kurs, den Kennedy gebilligt hatte, und dem, was die Sowjetunion und die DDR in die Tat umsetzten, so frappierend, dass man wohl kaum von Zufall sprechen kann. Kennedy gewährte Chruschtschow einen größeren Handlungsspielraum in Berlin als alle seine Vorgänger. Die freigegebenen Transkripte der Gespräche in Wien enthüllen de facto den Deal, zu dem sich Kennedy bereit erklärte: Er würde Chruschtschow freie Hand bei der Schließung der Grenze geben, im Austausch gegen eine Garantie, dass die Sowjets weder die Freiheit Westberlins noch den Zugang der Alliierten zu der Stadt antasteten. Hohe amerikanische Regierungsbeamte, die im Nachhinein die Protokolle lasen, zeigten sich schockiert über Kennedys ungeahnte Bereitschaft, die Spaltung Europas nach dem Krieg als dauerhaft anzuerkennen, um Stabilität zu erreichen. Wie Kennedy am ersten Tag des Wiener Gipfels zu Chruschtschow sagte: »Die Hauptsache besteht also darin, dass sämtliche Veränderungen, die sich auf der Welt ereignen und das Kräftegleichgewicht beeinflussen, auf eine Weise erfolgen, die nicht dem Ansehen der vertraglichen Verpflichtungen unserer beiden Länder schadet.«
Am zweiten Tag nahm Kennedy expliziter auf Berlin Bezug und beschränkte Amerikas Versprechen mehrmals ausdrücklich auf Westberlin , statt auf ganz Berlin wie seine Vorgänger. Diese Präzisierung bekräftigte Kennedy in aller Öffentlichkeit am 25. Juli in einer live im Fernsehen übertragenen Rede an die Nation. Die Botschaft, die er hier in der Berlin-Frage Chruschtschow vermittelte, war so eindeutig defensiv, dass amerikanische Entscheidungsträger, die in der Diplomatie seit dem Zweiten Weltkrieg jedes Wort sorgfältig abwogen, regelrecht beunruhigt waren.
Zwei Wochen vor der Schließung der Grenze, am 30.Juli, erklärte der Vorsitzende des Senatsausschusses für Auswärtige Beziehungen, William Fulbright, im Fernsehen zu der Grenze in Berlin: »Die Wahrheit ist, denke ich, dass die Russen alle Macht haben, sie auf jeden Fall zu schließen. Nächste Woche, wenn sie beschließen würden, die Grenze zu schließen, könnten sie das tun, ohne einen Vertrag zu verletzen. Ich verstehe nicht, weshalb die DDR ihre Grenze nicht schon längst geschlossen hat, denn ich meine, sie hat jedes Recht dazu.«
Damit hatte der Senator aus Arkansas ausgesprochen, was Kennedy insgeheim dachte. Der US-Präsident dementierte diese Äußerung mit keinem Wort, und der Nationale Sicherheitsberater McGeorge Bundy sagte Kennedy unter vier Augen, er halte Fulbrights Äußerung für »hilfreich«. 9 Ohne gegenteilige Stellungnahme des Präsidenten gelangte Chruschtschow zu dem Schluss, dass Fulbright absichtlich ein Signal gegeben hatte. Das sagte er auch dem SED-Chef Walter Ulbricht und dem italienischen Staatspräsidenten Amintore Fanfani bei seinem Besuch. 10 »Sobald die Grenze geschlossen ist«, sagte Chruschtschow zu Ulbricht, »werden die Amerikaner und die Westdeutschen regelrecht froh sein. [US-Botschafter] Thompson sagte mir, dass diese Flucht den Westdeutschen erhebliche Schwierigkeiten bereite. Wenn wir also diese Kontrollen einführen, dann werden alle zufrieden sein. Und abgesehen davon werden sie Ihre Macht spüren.«
Ulbricht bestätigte dies und fügte hinzu, dann hätten sie endlich Stabilität erreicht. Das war das Ziel, in dem Ulbricht, Chruschtschow und Kennedy sich einig waren: der Wunsch nach Stabilität für die DDR. 11
Das ganze Jahr 1961 über war Berlin ein unerwünschtes, ererbtes Problem für Kennedy und nie eine Angelegenheit, für die er wirklich kämpfen wollte. Bei einem heißen Bad in einer riesigen goldenen Badewanne in Paris beklagte sich der Präsident bei seinen Vertrauten Kenny O’Donnell und Dave Powers: »Also befinden wir uns in einer geradezu lächerlichen Situation. Es scheint doch geradezu unsinnig für uns, einen Nuklearkrieg wegen eines Vertrags zu riskieren, der Berlin als die künftige Hauptstadt eines vereinigten Deutschlands garantiert, wenn wir alle genau wissen, dass Deutschland wahrscheinlich nie wiedervereinigt wird.« Im Flugzeug nach London, nach dem Wiener Gipfel, beschwerte Kennedy sich erneut bei O’Donnell: »Wir sind an der Teilung in Deutschland nicht schuld. Wir sind wirklich nicht für die Vier-Mächte-Besatzung in Berlin allein verantwortlich, ein Fehler, den die Russen und wir niemals hätten begehen
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