Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt
amerikanischen Öffentlichkeit schien. Am 27. Oktober einigten sich Robert, der Bruder des Präsidenten, und Dobrynin darauf, dass die Vereinigten Staaten ihre Jupiter-Atomraketen aus der Türkei abzogen. Als Chruschtschow das Zugeständnis einen Tag danach in einem Brief an Kennedy erwähnte, schickte Bobby den Brief an die Sowjets zurück und bestritt, dass jemals so ein Handel geschlossen worden sei. Chruschtschow hielt den Abzug aus der Türkei aber für einen wesentlichen Bestandteil der Einigung. 36
Dennoch hatte sich Kennedy selbst gegen seine ärgsten Kritiker unter den Alliierten durchgesetzt. De Gaulle hatte dem Gesandten Kennedys, Dean Acheson, während der Krise bekanntlich geantwortet, dass er nicht den Beweis von Spionageaufnahmen brauche, um »eine große Nation« zu unterstützen. 37 Adenauer sagte, er werde das Los Kennedys teilen, selbst wenn die Vereinigten Staaten der Meinung wären, sie müssten Kuba bombardieren oder dort einmarschieren. »Die Raketen müssen weg«, erklärte er kategorisch und rüstete anschließend sein Land für eine Berlin-Blockade und sogar für einen atomaren Schlagabtausch. 38 Bezeichnenderweise lehnte Kennedy das friedfertige Angebot Macmillans ab, mit Moskau zu verhandeln und wegen Kuba einen Gipfel einzuberufen, der nach Kennedys Meinung für Berlin katastrophale Folgen hätte. »Ich weiß nicht recht, worüber wir bei dem Treffen sprechen sollten«, sagte Kennedy, »weil er mit derselben alten Haltung zu Berlin daherkommen wird, vermutlich einen Abbau der Raketen vorschlägt, wenn wir Berlin neutralisieren. « 39
Das eigentlich Überraschende an Kennedys Demonstration der Stärke war Chruschtschow selbst, der so hoch gepokert hatte. General Clay ließ gegenüber dem Diplomaten William Smyser durchblicken, dass es möglicherweise nie zu einer Raketenkrise gekommen wäre, wenn Chruschtschow Kennedy nicht als schwach eingeschätzt hätte. Er war auch der Meinung, dass die Gefahr in Berlin erst dann zurückgehen würde, wenn Kennedy klargestellt hätte, dass er Moskaus Schikanen nicht länger hinnehme. 40
Die Westberliner feierten den Ausgang der Raketenkrise begeisterter als alle anderen. Sie schlossen daraus, dass die sowjetische Gefahr an ihnen vorübergezogen war.
RATHAUS SCHÖNEBERG
DONNERSTAG, 27. JUNI 1963
Seine erste und letzte Reise nach Berlin machte Kennedy acht Monate nach der Kuba-Krise am 27. Juni 1963. Nach einer Stippvisite am Checkpoint Charlie und einem Spaziergang entlang der Mauer hielt er eine Rede vor dem Rathaus, wo sich gut 300 000 Berliner versammelt hatten. Die meisten sollten sich ihr Leben lang an diesen Augenblick erinnern. Schätzungsweise eine weitere halbe Million Berliner säumte die über 50 Kilometer lange Route, die Kennedys Wagenkolonne nach der Landung der Präsidentenmaschine auf dem militärischen Teil des Flughafens Tegel durch das gesamte Stadtgebiet Westberlins nahm. Während der Fahrt stand Kennedy die meiste Zeit ganz rechts im Fond seines offenen Lincoln-Cabrios neben dem Regierenden Bürgermeister Willy Brandt und Bundeskanzler Konrad Adenauer. Um einen kurzen Blick auf ihren amerikanischen Helden zu erhaschen, saßen Berliner auf Bäumen, klammerten sich an Laternenpfähle und drängten sich auf den Dächern und Balkonen. Das Rote Kreuz, das man eigens für Notfälle in der Menge bestellt hatte, berichtete später, dass mehr als tausend Menschen ohnmächtig geworden seien. 41
Während der Fahrt durch Berlin waren die Mitglieder der US-Delegation und der Präsident selbst überrascht angesichts der Begeisterung, die Kennedy entgegengebracht wurde. Adenauer, der mit solchen frenetisch jubelnden Menschenmassen böse Erinnerungen an das Dritte Reich verband, soll Außenminister Rusk zugeflüstert haben, dass ihm so etwas geradezu Angst mache. Einmal war Kennedy selbst so bestürzt, dass er zu seinem Adjutanten, General Godfrey T. McHugh, sagte: »Wenn ich zu ihnen sagen würde, sie sollten die Mauer niederreißen, dann würden sie es tun.« 42
Aber je länger Kennedy und sein Gefolge auf Westberliner Boden waren, desto stärker ließen sie sich von der Bevölkerung anstecken. Kennedy war zugleich gerührt vom Mut der Westberliner und schockiert vom Anblick der Mauer, gegen deren Bau er kaum etwas unternommen hatte. »Er sieht aus wie jemand, der soeben einen Blick in die Hölle erhascht hat«, beobachtete der Time- Korrespondent Hugh Sidey. Während Kennedy durch die Stadt fuhr, überarbeitete er die allerwichtigste der
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