Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt
drei Reden, die er halten wollte. Er strich die nichts sagenden Passagen, die man in Washington verfasst hatte, um die Sowjets nicht zu provozieren. Seine Rede vor dem Westberliner Rathaus Schöneberg sollte die wohl emotionalste und eindrucksvollste Rede werden, die er jemals im Ausland hielt:
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27. Juni 1963: Kennedy, Brandt und Adenauer stehen in einem offenen Wagen, während sie auf dem Weg zu der historischen Rede des amerikanischen Präsidenten, an einer halben Million jubelnder Berliner vorbeifahren.
Wenn es in der Welt Menschen geben sollte, die nicht verstehen oder nicht zu verstehen vorgeben, worum es heute in der Auseinandersetzung zwischen der freien Welt und dem Kommunismus geht, dann können wir ihnen nur sagen, sie sollen nach Berlin kommen. Es gibt Leute, die sagen, dem Kommunismus gehöre die Zukunft. Sie sollen nach Berlin kommen. Und es gibt wieder andere in Europa und in anderen Teilen der Welt, die behaupten, man könne mit dem Kommunismus zusammenarbeiten. Auch sie sollen nach Berlin kommen. Und es gibt auch einige wenige, die sagen, es treffe zwar zu, dass der Kommunismus ein böses und ein schlechtes System sei, aber er gestatte es ihnen, wirtschaftlichen Fortschritt zu erreichen. Aber lasst auch sie nach Berlin kommen. 43
An diesem Punkt streute Kennedy eine Zeile auf Deutsch ein, die in seinem Originaltext nicht enthalten war, die er aber vor dem Auftritt mit Robert Lochner, dem Chef des Rundfunks im amerikanischen Sektor (RIAS), und mit Adenauers Dolmetscher Heinz Weber einstudiert hatte. »Lasst sie nach Berlin kommen«, sagte er. »Alle freien Menschen, wo immer sie leben mögen, sind Bürger dieser Stadt Westberlin, und deshalb bin ich als freier Mann stolz darauf, sagen zu können: ›Ich bin ein Berliner‹.« Oder wie es Kennedy sich auf einer Karte notiert hatte: »Ish bin ine Bear-LEAN-er.«
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John F. Kennedy: »Ich bin ein Berliner.«
Jahre danach argumentierten englischsprachige Hobbylinguisten, Kennedy habe den Satz falsch ausgesprochen, und indem er den unbestimmten Artikel »ein« dem Wort Berliner voranstellte, was zugleich der Name eines deutschen Gebäcks ist, habe er der Menge in Wirklichkeit auf gut Englisch gesagt: »I am a jelly doughnut.« (Etwa: Ich bin ein leckerer Krapfen.) Aber der US-Präsident hatte genau über diese Frage mit zwei seiner Berater diskutiert, die ganz richtig erklärten, dass Kennedy, wenn er den Artikel wegließe, damit andeutete, er sei in Berlin geboren. Das hätte die Menge irritieren können, und die Wirkung der symbolischen Geste wäre womöglich verloren gegangen. Auf jeden Fall wussten in der überschwänglich jubelnden Menge alle ganz genau, was Kennedy damit sagen wollte. 44
Indem er die ganze Empörung zum Ausdruck brachte, die er im August 1961 zurückgehalten hatte, erteilte Kennedy dem Kommunismus eine klare Absage. Er räumte ein, dass auch die Demokratie gewisse Mängel habe, aber »wir hatten es nie nötig, eine Mauer zu errichten, um unsere Leute bei uns zu halten und sie daran zu hindern, woanders hinzugehen«. Zur großen Freude Adenauers sprach er zum ersten Mal in seiner Präsidentschaft auch von dem Recht auf Wiedervereinigung, das sich die Deutschen durch ihr Verhalten seit nunmehr achtzehn Jahren erworben hätten. Er äußerte seine feste Überzeugung, dass Berlin, die deutsche Nation und der europäische Kontinent eines Tages vereint würden.
Das war ein neuer Kennedy.
Der US-Präsident rief General Clay, der mit ihm nach Berlin gereist war, zu sich aufs Podium. Gemeinsam genossen sie die Jubelrufe der Menge – der Mann, der im privaten Kreis Kennedy scharf kritisierte, weil er den Sowjets nicht energisch genug die Stirn bot, und der Oberbefehlshaber, der jetzt, zur Bestürzung seiner Berater, so sehr im Sinne Clays handelte. Nach der Rede sagte Bundy dem Präsidenten: »Ich glaube, Sie sind ein bisschen zu weit gegangen. «
Mit einer einzigen Rede hatte Kennedy dem amerikanischen Kurs in Bezug auf Deutschland und Berlin eine Richtung gegeben, die mit der neuen Entschlossenheit übereinstimmte, die er in Kuba bewiesen hatte. Zum ersten Mal in seiner Präsidentschaft behandelte Kennedy Berlin wirklich als einen Ort, der verteidigt werden musste, als einen Ort, an dem er sein Vermächtnis hinterlassen
sollte, und nicht mehr als eine von anderen übernommene Last mit Menschen, für die er wenig übrighatte. Von da an konnte weder Kennedy noch irgendein anderer US-Präsident in Berlin einen
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