Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt
mit, er sei darüber enttäuscht, dass Chruschtschow in seinem Brief an den US-Präsidenten nicht ausführlicher auf die Möglichkeit eines Atomteststopps eingegangen sei. Er bot Bolschakow ein Zugeständnis an: Washington würde das Inspektoren-Dreierteam akzeptieren, das der Kreml wünschte (je ein Vertreter des sowjetischen, des westlichen Blocks und der blockfreien Länder), dafür dürfe Russland kein Veto gegen den Ort einlegen, der inspiziert werden sollte.
Bolschakow ließ Bobby in dem Glauben, dass er mehr Verhandlungsspielraum habe, als es in Wirklichkeit der Fall war. Er gab an, die Sowjets würden fünfzehn unbemannte seismische Stationen auf sowjetischem Boden akzeptieren, was den von den Amerikanern geforderten neunzehn bereits näher kam.
Da er ein engeres Band zu Chruschtschow knüpfen wollte, sagte Robert Kennedy, er und sein Bruder seien sich im Prinzip mit den Sowjets in der in ihren Augen historischen Deutschland-Frage einig und in ihrer Angst vor deutschen Revanchisten. Er sagte, der Präsident teile die Furcht der Sowjets vor der Vorstellung eines atomar bewaffneten Deutschland, das versuche, seine östlichen Gebiete zurückzugewinnen. »Mein Bruder hat sie als Feinde bekämpft«, sagte Bobby zu Bolschakow. Die beiden Seiten seien sich lediglich in den Methoden uneinig.
Bolschakow und Robert Kennedy setzten ihre Treffen bis knapp eine Woche vor dem Wiener Gipfel fort. Womöglich dauerte es deshalb nur einen Tag, bis Moskau auf Präsident John F. Kennedys Wunsch antwortete, die beiden Staatschefs sollten auf dem Gipfeltreffen mehr Vier-Augen-Gespräche vorsehen, lediglich in Anwesenheit der Dolmetscher.
Allerdings signalisierte Chruschtschow erst zwei Tage nach dem letzten Bolschakow-Treffen vor dem Gipfel so unmissverständlich wie noch nie, dass er fest entschlossen war, über Berlins Zukunft zu verhandeln.
Zu diesem Zweck nutzte er den offiziellen Kanal über US-Botschafter Thompson in Moskau. Er wollte keine Missverständnisse aufkommen lassen, wie sehr ihm dieses Thema am Herzen lag.
SPORTPALAST, MOSKAU
DIENSTAG, 23. MAI 1961
Wie der Zufall es wollte, stellte Chruschtschow in derselben Sporthalle klar, dass er in der Berlin-Frage eine Entscheidung herbeiführen wolle, in der er zweieinhalb Jahre zuvor, 1958, vor polnischen Kommunisten die Berlin-Krise heraufbeschworen hatte.
Nur wenige Minuten nach Botschafter Thompsons Ankunft mit seiner Frau in Chruschtschows VIP-Loge zu einer Gastvorstellung der amerikanischen Eisrevue »Ice Capades« brummte Chruschtschow, er habe schon so viele Eisrevuen gesehen, dass es für ein ganzes Leben reiche. Deshalb geleitete er Thompson in ein separates Zimmer zum Essen und erklärte ihm, die Einladung sei im Grunde nur ein Vorwand gewesen, um über Wien zu sprechen.
Obwohl er sich keine Notizen machte, hatte Thompson keine Schwierigkeiten, sich danach in einem Telegramm nach Washington die Einzelheiten des Gesprächs in Erinnerung zu rufen. Vor dem Hintergrundlärm der amerikanischen Musik, der übers Eis gleitenden Schlittschuhe und des Zuschauerbeifalls übermittelte Chruschtschow eine unmissverständliche Botschaft: Ohne eine neue Einigung in der Berlin-Frage, teilte er Thompson mit, werde er unilateral bis zum Herbst oder Winter Maßnahmen ergreifen, um den Ostdeutschen die volle Kontrolle über die Stadt zu übertragen und sämtlichen Besatzungsrechten der Alliierten ein Ende zu setzen. 36
Verächtlich schob Chruschtschow Kennedys Äußerungen über die nukleare Abrüstung beiseite, weil sie, so sagte er, unmöglich sei, solange das Problem Berlin existiere. Falls die Vereinigten Staaten Gewalt einsetzten, um die sowjetischen Ziele in Berlin zu stören, dann werde darauf mit Gewalt geantwortet. Wenn sie einen Krieg wollten, würden sie ihn bekommen. Thompson hatte dieses Säbelrasseln schon früher bei Chruschtschow festgestellt, aber nur wenige Tage vor dem Gipfeltreffen in Wien klang es wesentlich beunruhigender.
Chruschtschow zuckte mit den Schultern und erklärte, dass er keinen Krieg erwarte. »Nur ein Geisteskranker würde einen Krieg wollen, und die westlichen Staatschefs sind nicht geisteskrank, wenngleich Hitler geisteskrank war«, sagte er. Chruschtschow schlug mit der Faust auf den Tisch und sprach über die Schrecken des Kriegs, die er sehr gut kannte. Er konnte nicht glauben, dass Kennedy wegen Berlin eine solche Katastrophe herbeiführen werde.
Thompson konterte mit dem Hinweis, dass Chruschtschow, nicht Kennedy,
die Gefahr
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