Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt
Verantwortung als Verteidiger der Freiheit trage und es deshalb die erforderlichen Opfer akzeptieren müsse. Er hängte die Erwartungen für das, was man mit einem so schwierigen Gegner erreichen konnte, sehr niedrig und ging lediglich in einem Satz auf das Treffen in Wien ein.
»Es ist keine offizielle Agenda geplant, und es werden keine Verhandlungen geführt«, sagte er. 40
MOSKAU
FREITAG, 26. MAI 1961
Als unmittelbare Reaktion auf Kennedys »Schuss vor den Bug«, wie Chruschtschow die Rede wertete, berief er das Gremium ein, das ihn als Parteichef am schärfsten kritisierte: das Präsidium des ZK der Kommunistischen Partei. Wie üblich signalisierte er mit der Entscheidung, den Stenografen zur Sitzung mitzubringen, den Anwesenden, dass er die Absicht hatte, etwas Wichtiges mitzuteilen. Zu den Genossen im Präsidium sagte er, Kennedy sei »ein Hurensohn«. Dennoch messe er dem Gipfel in Wien große Bedeutung bei, weil er ihn dazu nutzen wolle, eine Entscheidung in der, wie er es nannte, »deutschen Frage« herbeizuführen. Er umriss die Lösung, die er vorschlagen wollte, und hielt sich im Wesentlichen an die Worte, die er gegenüber Botschafter Thompson gebraucht hatte. 41 Könnten die Schritte, die er zur Veränderung des Status von Berlin vorschlug, theoretisch einen Atomkrieg auslösen, fragte er seine Genossen in der sowjetischen Führung. Gewiss, antwortete er selbst und führte anschließend aus, warum ein solcher Konflikt seiner Meinung nach jedoch zu 95 Prozent unwahrscheinlich sei.
Unter den Parteiführern wagte nur Anastas Mikojan, dem Parteichef zu widersprechen. Er meinte, dass Chruschtschow die amerikanische Bereitschaft und Fähigkeit unterschätze, einen konventionellen Krieg um Berlin zu führen. Von den früheren Angriffen, die stärker Westdeutschland und Adenauer als Gefahr dargestellt hatten, kam Chruschtschow nunmehr ab und teilte den Anwesenden mit, dass die Vereinigten Staaten für die Sowjets das allergefährlichste Land seien. In seiner Hassliebe zu Amerika hatte er im Vorfeld des Wiener Gipfeltreffens wieder seine Vorliebe für Schimpftiraden entdeckt, ein eindeutiges Indiz an die Parteiführung, welchen Ausgang er erwartete.
Chruschtschow wiederholte seine zunehmend paranoide Anschauung, dass, auch wenn er sich mit Kennedy treffe, in Wirklichkeit das Pentagon und die CIA die Vereinigten Staaten regierten – eine Tatsache, der er sich bereits bei seinem Kontakt mit Eisenhower bewusst gewesen sei. Und eben darum könne man nicht darauf bauen, dass amerikanische Präsidenten Entscheidungen träfen, die sich auf logische Prinzipien gründeten. »Aus diesem Grund könnten bestimmte Kräfte hervortreten und einen Vorwand finden, gegen uns in den Krieg zu ziehen«, sagte er.
Chruschtschow sagte seinen Genossen, er sei bereit, das Risiko eines Kriegs einzugehen, wisse aber auch ganz genau, wie man ihn am besten vermeiden
könne. Er sagte, die europäischen Bündnispartner Amerikas und die internationale öffentliche Meinung würden Kennedy davon abhalten, auf eine Veränderung des Status von Berlin mit Atomwaffen zu reagieren. De Gaulle und Macmillan würden niemals einen amerikanischen Kriegskurs unterstützen, weil sie wüssten, dass die wichtigsten sowjetischen Angriffsziele für Atombomben, bei der Reichweite der Moskauer Raketen, mitten in Europa lägen. »Das sind intelligente Menschen, und sie verstehen das«, sagte er.
Dann führte Chruschtschow aus, wie sich die Lage in Berlin nach dem sechsmonatigen Ultimatum, das er in Wien stellen wolle, entwickeln werde. Er werde unilateral mit der ostdeutschen Regierung einen Friedensvertrag unterzeichnen und ihr anschließend die Zuständigkeit für sämtliche Zufahrtswege nach Westberlin übertragen. »Wir gehen nicht gegen Westberlin vor, wir erklären keine Blockade«, sagte er. So lieferte er keinen Vorwand für eine militärische Aktion. »Wir zeigen, dass wir bereit sind, einen Luftverkehr zuzulassen, aber unter der Bedingung, dass westeuropäische Flugzeuge auf Flughäfen in der DDR landen [nicht in Westberlin]. Wir fordern keinen Truppenabzug. Wir halten sie zwar für illegal, aber wir werden keine brutalen Methoden anwenden, um sie zu vertreiben. Wir werden nicht die Lieferung von Lebensmitteln unterbrechen und auch andere Versorgungskanäle nicht stören. Wir werden uns in den Angelegenheiten Westberlins an einen Kurs der Nichtverstöße und Nichteinmischung halten. Deshalb glaube ich auch nicht, dass dies einen Krieg
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