Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt
eines Kriegs heraufbeschwöre, indem er drohe, die Lage in Berlin zu ändern.
Das möge zwar stimmen, räumte Chruschtschow ein, aber falls Feindseligkeiten ausbrechen sollten, dann wären es die Amerikaner, nicht die Sowjets, die die Grenze Ostdeutschlands überschreiten müssten, um Berlin zu verteidigen, und auf diese Weise würden sie einen Krieg beginnen.
Immer wieder erklärte Chruschtschow während des Essens, dass der Sieg im Zweiten Weltkrieg nunmehr sechzehn Jahre zurückliege und es an der Zeit sei, den Besatzungsstatus Berlins zu beenden. Chruschtschow erinnerte Thompson daran, dass er in seinem ersten Berlin-Ultimatum eine Frist von sechs Monaten gesetzt hatte. »Inzwischen sind dreißig Monate vergangen«, gab er wütend auf Thompsons Anregung zurück, dass man den derzeitigen Status quo in Berlin doch beibehalten könne. Die Vereinigten Staaten würden versuchen, dem Ansehen der Sowjetunion zu schaden, konterte Chruschtschow, und das könne man nicht länger dulden.
Thompson räumte ein, dass die Vereinigten Staaten Chruschtschow nicht daran hindern könnten, einen Friedensvertrag mit der DDR zu unterzeichnen, die entscheidende Frage sei jedoch, ob der sowjetische Führer diese Gelegenheit dazu nutzte, den amerikanischen Zugang zu Berlin zu beeinträchtigen. Während Chruschtschow einen Versuchsballon startete, um zu sondieren, ob er in Wien einen härteren Kurs hinsichtlich Berlins fahren konnte, lotete Thompson aus, wie Kennedys Antwort aussehen sollte.
Thompson erklärte ebenfalls, bei dem amerikanischen Engagement in Berlin stehe das weltweite Ansehen der Vereinigten Staaten auf dem Spiel. Überdies fürchte Washington, dass Westdeutschland und Westeuropa als Nächste fallen würden, falls man dem sowjetischen Druck nachgeben und Berlin opfern sollte. »Der psychologische Effekt wäre katastrophal für unsere Position«, sagte er Chruschtschow.
Chruschtschow schnaubte verächtlich über Thompsons Worte und wiederholte, was schon zu einer Art Mantra geworden war: Berlin hatte in Wirklichkeit sowohl für Amerika als auch für die Sowjetunion keine große Bedeutung, warum machten sie beide also so viel Aufhebens um die Veränderung des Status?
Wenn Berlin wirklich so unbedeutend wäre, gab Thompson zurück, dann würde Chruschtschow kaum ein so großes Risiko eingehen, um in der Stadt die Oberhand zu erlangen.
Darauf lancierte Chruschtschow den Vorschlag, den er auch in Wien vorbringen
wollte: Nichts würde die Vereinigten Staaten daran hindern, weiterhin Truppen in der »freien Stadt« Westberlin zu unterhalten. Es würde sich lediglich ändern, dass Washington künftig diese Rechte mit der DDR aushandeln müsse.
Thompson hakte nach und wollte wissen, welche Aspekte des Problems Chruschtschow denn am stärksten beunruhigten. Er ließ durchblicken, dass es womöglich das Flüchtlingsproblem sei. Chruschtschow tat diese Vorstellung jedoch mit einer Handbewegung ab und erklärte schlicht: »Berlin ist eine schwärende Wunde, die entfernt werden muss.«
Chruschtschow sagte Thompson, dass die deutsche Wiedervereinigung unmöglich sei und dass sie im Grunde auch niemand wünsche – weder de Gaulle noch Macmillan, ja nicht einmal Adenauer. De Gaulle habe ihm, Chruschtschow, nicht nur gesagt, dass Deutschland geteilt bleiben müsse, sondern dass man es am besten in drei Teile aufteilen sollte. Der sanfte Thompson sah keine andere Möglichkeit, als auf Chruschtschows Drohung zurückzukommen, weil er sonst missverstanden werden könnte, dass er wegen Berlin grünes Licht gegeben habe. »Falls Sie Gewalt einsetzen und unseren Zugang und die Verbindungen gewaltsam kappen sollten«, sagte Thompson, »dann werden wir auf Gewalt mit Gewalt antworten.«
Chruschtschow entgegnete darauf ruhig und mit einem listigen Lächeln, Thompson habe ihn missverstanden, er habe nicht die Absicht, Gewalt einzusetzen. Er werde lediglich den Vertrag unterzeichnen und damit die Rechte beenden, die die Vereinigten Staaten als »Bedingungen der Kapitulation« erworben hatten. 37
Das spätere Telegramm Thompsons nach Washington zu dieser Kraftprobe im Sportpalast gab kaum die Bedeutung dessen wieder, was er soeben gehört hatte. In Chruschtschows Augen war dies eine Generalprobe für die bevorstehende Entwicklung der Ereignisse. Thompson hingegen spielte Chruschtschows Drohgebärde herunter. Er berichtete, der sowjetische Führer habe zum ersten Mal detailliert ein Szenario beschrieben, wie eine permanente Teilung der Stadt
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