Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt
auslösen würde, weil der Kriegszustand und das Besatzungsregime dem Ende zugehen.«
Mikojan warnte als Einziger Chruschtschow, die Wahrscheinlichkeit eines Kriegs sei höher, als der Parteichef glaube. Aus Achtung vor Chruschtschow nannte er jedoch lediglich eine Wahrscheinlichkeit von 10 Prozent, im Gegensatz zu Chruschtschows 5 Prozent. »Meiner Meinung nach könnten sie auch ohne Atomwaffen militärische Aktionen einleiten«, sagte er.
Chruschtschow gab zurück, dass Kennedy so große Angst vor einem Krieg habe, dass er auf keinen Fall militärisch antworten werde. Er sagte dem Präsidium, dass sie sich möglicherweise in Laos, Kuba oder im Kongo, wo das konventionelle Kräfteverhältnis nicht so eindeutig sei, mit Kompromissen zufriedengeben müssten, aber rings um Berlin stehe die Überlegenheit des Kremls völlig außer Frage.
Um diese Überlegenheit zu garantieren, wies Chruschtschow Verteidigungsminister Rodion Malinowski, den sowjetischen Stabschef Matwej Sacharow und den Oberbefehlshaber des Warschauer Pakts Andrej Gretschko (der
ihm gegenübersaß) an, »gründlich das Kräfteverhältnis in Deutschland zu untersuchen und zu prüfen, was benötigt wird«. Er sei bereit, die erforderlichen Rubel auszugeben, sicherte er ihnen zu. Als erste Maßnahme sollten sie die Artillerie und Grundbewaffnung aufrüsten, und dann müssten sie bereit sein, weitere Waffen zu verlegen, falls die Sowjetunion weiter provoziert werde. Er verlangte innerhalb von zwei Wochen einen Bericht seiner Befehlshaber, wie sie eine Operation gegen Berlin durchzuführen gedächten, und ging davon aus, dass er binnen sechs Monaten imstande sei, seinen scharfen Worten in Wien mit einer erhöhten militärischen Kapazität Nachdruck zu verleihen.
Mikojan entgegnete, dass Chruschtschow Kennedy in eine gefährliche Lage dränge, wo ihm gar nichts anderes übrig bleibe, als militärisch zu antworten. Er regte an, Chruschtschow solle weiterhin den Luftverkehr nach Westberlin gestatten, was seine Berlin-Lösung Kennedy ein wenig schmackhafter mache.
Chruschtschow war anderer Meinung. Er erinnerte seine Genossen daran, dass Ostdeutschland derzeit zerfalle. Tausende von Fachkräften flüchteten Woche für Woche aus dem Land. Wenn man es versäume, diesen Exodus mit durchgreifenden Maßnahmen zu stoppen, dann würde dies nicht nur Ulbricht verunsichern, sondern auch Zweifel unter den Verbündeten im Warschauer Pakt wecken, die »in dieser Aktion unsere Inkonsequenz und Unsicherheit spüren« würden.
Er sei nicht nur bereit, den Luftkorridor zu schließen, sagte Chruschtschow und sah Mikojan dabei an, sondern er werde auch jedes alliierte Flugzeug abschießen, das versuche, in Westberlin zu landen. »Wir befinden uns in einer sehr starken Position, aber wir werden sie jetzt, natürlich, richtig einschüchtern müssen. Zum Beispiel müssen wir, wenn da etwas herumfliegt, das Flugzeug wirklich herunterholen. Könnten sie mit Provokationen antworten? Das könnten sie natürlich. […] Wenn wir unsere politische Linie durchhalten und wir anerkannt, respektiert und gefürchtet werden wollen, dann müssen wir standhaft bleiben.«
Chruschtschow beendete seinen »Kriegsrat« mit der Frage, ob er, wie es laut Protokoll üblich war, in Wien Kennedy Geschenke überreichen solle.
Vertreter des Außenministeriums schlugen vor, Präsident Kennedy zwölf Dosen mit dem besten schwarzen Kaviar und Einspielungen sowjetischer und russischer Musik zu schenken. Unter anderem zogen seine Mitarbeiter auch ein silbernes Kaffeeservice für die Gattin des Präsidenten in Betracht. Sie erbaten Chruschtschows Zustimmung.
»Man kann auch vor einem Krieg Geschenke austauschen«, erwiderte darauf Chruschtschow. 42
HYANNIS PORT, MASSACHUSETTS
SAMSTAG, 27. MAI 1961
Bei dichtem Regen startete Kennedy an Bord der Air Force One vom Flugplatz Andrews Air Force Base mit Kurs auf Hyannis Port. In nur drei Tagen würde er in Paris landen und sich mit de Gaulle treffen, und in nur einer Woche würde die Zusammenkunft mit Chruschtschow in Wien stattfinden. Der Vater des Präsidenten hatte zum bervorstehenden vierundvierzigsten Geburtstag von John F. Kennedy am 29. Mai die Schlafgemächer seines Sohnes mit Bildern von nackten Frauen dekorieren lassen – ein kleiner Scherz unter Schürzenjägern. 43
Kennedy zog sich zur Geburtstagsfeier auf den Familiensitz zurück; dort wollte er sich auch in die Ausarbeitungen zu den verschiedensten Themen vom atomaren Gleichgewicht bis hin zu
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