Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt
Chruschtschows Charakter und Denkweise vertiefen. Die amerikanischen Geheimdienste zeichneten das Bild von einem Mann, der versuchen würde, ihn in dem einen Moment zu umgarnen und schon im nächsten unter Druck zu setzen. Sie hielten ihn für einen Spieler, der Kennedy auf die Probe stellen würde, für einen überzeugten Marxisten, der koexistieren, aber auch wetteifern wollte, einen groben und unsicheren Staatschef aus einfachen Familienverhältnissen, ausgestattet mit einer gehörigen Portion Bauernschläue, der vor allen Dingen unberechenbar war.
Der Präsident konnte nur hoffen, dass Chruschtschows Instruktionen über den Hintergrund des US-Präsidenten nicht ganz so vielsagend waren. Seine Rückenschmerzen waren so heftig wie eh und je seit seinem Amtsantritt und wurden noch durch eine Verletzung verschlimmert, die er sich einige Tage zuvor bei der zeremoniellen Pflanzung eines Baums in Kanada zugezogen hatte. Neben dem Papierkram würde er das Schmerzmittel Procain für seinen Rücken, Cortison für seine Addison-Krankheit und einen ganzen Cocktail aus Vitaminen, Enzymen und Amphetaminen für andere Wehwehchen sowie für die Steigerung der Konzentrationsfähigkeit mitnehmen.
Er bewegte sich gewöhnlich mit Krücken fort, wenn auch nie in der Öffentlichkeit, und humpelte wie ein bereits angeschlagener Sportler, der sich auf einen Wettkampf vorbereitet. 44
Bild 4
Juni 1961, Washington: Eine erneute Rückenverletzung verursacht Kennedy auf dem Wiener Gipfel starke Schmerzen. Gewöhnlich achtete er jedoch darauf, nicht mit Krücken fotografiert zu werden.
KAPITEL 10
Wien: Grüner Junge trifft Al Capone
Also befinden wir uns in einer geradezu lächerlichen Situation.
Es scheint doch geradezu unsinnig für uns, einen Atomkrieg wegen
eines Vertrags zu riskieren, der Berlin als die künftige Hauptstadt eines
vereinigten Deutschlands garantiert, wenn wir alle genau wissen,
dass Deutschland wahrscheinlich nie wiedervereinigt wird. Aber wir sind
an diesen Vertrag gebunden, genau wie die Russen, deshalb dürfen wir
nicht zulassen, dass sie sich davon verabschieden.
PRÄSIDENT KENNEDY ZU SEINEN MITARBEITERN,
WÄHREND ER SICH IN DER BADEWANNE AALTE, 1. JUNI 1961, PARIS 1
Die USA sind nicht bereit, die Lage am gefährlichsten Ort der Welt zu normalisieren. Die UdSSR will einen chirurgischen Eingriff an diesem schlimmen Ort vornehmen – um diesen Dorn, dieses Krebsgeschwür zu beseitigen –, ohne die Interessen einer Seite zu beeinträchtigen, sondern zur Zufriedenheit aller Völker der Welt.
PARTEICHEF CHRUSCHTSCHOW ZU PRÄSIDENT KENNEDY 4. JUNI 1961, WIEN 2
PARIS
MITTWOCH, 31. MAI 1961
Die Franzosen lagen dem US-Präsidenten zu Füßen, die französische Küche übertraf sich selbst, und tausend Korrespondenten, die über die Reise berichteten, sorgten für einen beispiellosen Medienrummel. Doch die schönsten Augenblicke verbrachte Kennedy in einer riesigen vergoldeten Badewanne in der »Königskammer« eines Palastes aus dem 19. Jahrhundert am Quai d’Orsay.
»O Mann, so eine Badewanne müssten wir im Weißen Haus haben«, sagte der Präsident zu seinem Vermittler Kenny O’Donnell, während er in das dampfende Wasser eintauchte, um seine furchtbaren Rückenschmerzen zu lindern. Nach O’Donnells Schätzung war die Wanne so lang und breit wie eine Tischtennisplatte. Der Mitarbeiter David Powers meinte, wenn der Präsident »es geschickt anstellte«, würde de Gaulle sie ihm vielleicht als Souvenir schenken. 3
Damit nahmen die »Badewannengespräche«, wie die drei Männer es später nennen sollten, ihren Anfang. De Gaulle hatte Kennedy während des dreitägigen Aufenthalts in Paris auf dem Weg nach Wien in dem Palais einquartiert. In den Pausen des dicht gefüllten Terminkalenders nahm Kennedy ein Bad und teilte seine aktuellen Eindrücke den beiden engsten Freunden im Weißen Haus mit, beide Veteranen des Zweiten Weltkriegs und seiner politischen Kampagnen. Nominell war O’Donnell zuständig für Kennedys Termine, aber seine langjährige Freundschaft mit den Kennedys hatte begonnen, als er sich mit Bobby in Harvard das Zimmer geteilt hatte. Powers war Kennedys Mann für vergnügliche Stunden, der ihn bei Laune hielt, genau nach Plan, und mit Sexpartnerinnen versorgte. 4
Entlang der Straßen hatten sich eine halbe bis eine Million Menschen gedrängt, um an jenem Morgen das berühmteste Paar der Welt zu begrüßen – das hing davon ab, von wem die Zahl stammte (die französische Polizei
Weitere Kostenlose Bücher