Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt
und den Folgen für Berlin zu tun hatten. Erstens wollte er de Gaulles Rat hören, wie er in Wien am besten Chruschtschow beeinflussen könne. Zweitens wollte er wissen, welche Maßnahmen der französische Staatspräsident den Verbündeten in der nächsten Berlin-Krise empfehlen würde, die seiner Meinung nach höchstwahrscheinlich in Kürze ausbrechen dürfte. Schließlich wollte Kennedy den Aufenthalt in Paris dazu nutzen, sein Image in der Öffentlichkeit aufzupolieren und dadurch seine Position für Wien zu stärken.
Als Kennedy de Gaulle von Chruschtschows Drohungen berichtete, die er mit Blick auf Berlin Thompson gegenüber im Sportpalast ausgesprochen hatte, schob der französische Präsident sie mit einer Handbewegung beiseite. »Herr Chruschtschow«, erklärte er geringschätzig, »hat schon einmal gesagt und wiederholt, dass in der Berlin-Frage sein Ansehen auf dem Spiel stehe und dass er binnen sechs Monaten eine Lösung wünsche, und dann wiederum in sechs Monaten und dann noch einmal in sechs Monaten.« Der Franzose zuckte mit den Achseln. »Wenn er wegen Berlin einen Krieg gewollt hätte, dann hätte er längst gehandelt.«
De Gaulle teilte Kennedy mit, dass er Berlin in erster Linie für eine psychologische Angelegenheit halte: »Es ist für beide Seiten überaus ärgerlich, dass Berlin ausgerechnet dort sein muss, wo es liegt; aber es ist nun einmal da.«
Das Treffen zwischen Kennedy und de Gaulle verlief von Anfang an besser als die bisherigen Treffen von US-Präsidenten und dem französischen Staatsoberhaupt. Eisenhower hatte Kennedy gewarnt, dass de Gaulle mit seiner nationalistischen Geringschätzung für die Vereinigten Staaten und die NATO das gesamte nordatlantische Bündnis gefährde. Franklin Roosevelt hatte einst de Gaulles stürmisches Temperament mit dem der Jungfrau von Orléans verglichen. »Je älter ich werde«, sagte Eisenhower zu Kennedy, »desto mehr habe ich die Nase voll von ihnen – nicht von den Franzosen, sondern von ihren Regierungen.« 17
Gegenüber seinen Vorgängern hatte Kennedy zwei Vorteile beim Umgang mit dem französischen Staatsoberhaupt: seine Bereitschaft, die Rolle des Juniorpartners von de Gaulle zu spielen, und die Wirkung, die seine Frau mit ihrer an der Sorbonne erworbenen Bildung und ihrer akzentfreien Aussprache auf den eitlen General hatte. Nachdem Jackie Kennedy beim Essen freundschaftlich mit de Gaulle über die Bourbonen und Ludwig XVI. geplaudert hatte, wandte sich der General zu Kennedy und schwärmte: »Ihre Frau weiß besser über die französische Geschichte Bescheid als die meisten Französinnen.« 18
Beim Entspannen in der Badewanne erzählte Kennedy seinen Freunden: »De Gaulle und ich kommen gut miteinander aus, vermutlich weil ich eine so bezaubernde Frau habe.« 19
KIEWER BAHNHOF, MOSKAU
SAMSTAG, 27. MAI 1961
Während Kennedy den Rummel in Paris über sich ergehen ließ, legte Chruschtschow die 1900 Kilometer von Moskau nach Wien komfortabel an Bord eines Sonderzugs mit sechs Waggons zurück. Unterwegs machte er in Kiew, Prag und Bratislava Station, und an sämtlichen Dorfbahnhöfen auf der Strecke jubelte die Menge ihm begeistert zu. 20
Kommunistische Parteizellen hatten Tausende von Menschen zusammengetrommelt, um ihn am Kiewer Bahnhof in Moskau zu verabschieden. 21 Vor der Abfahrt nahm Chruschtschow Botschafter Thompson noch zu einem letzten Gedankenaustausch zur Seite. In einem Telegramm berichtete Thompson über die kurze Unterhaltung und gab sich vorsichtig optimistisch: »Ich glaube, Chruschtschow liegt daran, dass das Treffen mit dem Präsidenten angenehm
verläuft«, schrieb er, »und dass er, wenn möglich, gern einen Vorschlag machen oder eine Position zu manchen Problemen einnehmen möchte, die den Effekt hätten, die Atmosphäre und die Beziehungen zu verbessern. Es fällt mir jedoch schwer, mir vorzustellen, was das sein könnte.« 22
Als Chruschtschow in den Zug steigen wollte, rannte ein kleines Mädchen auf ihn zu und überreichte ihm einen riesigen Strauß roter Rosen. In seiner charakteristischen, impulsiven Art winkte Chruschtschow die Frau des US-Botschafters, Jane Thompson, zu sich und schenkte ihr unter dem Jubel der Menge die Blumen.
Wenig zuversichtlich erklärte Thompson vor den versammelten Pressevertretern: »Ich hoffe, es geht alles gut.« Insgeheim fürchtete Thompson bereits, dass Kennedy bei der Berlin-Frage in einen Hinterhalt gelockt würde. Das letzte Indiz war ein scharf formulierter Leitartikel
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