Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt
in dem offiziellen Parteiorgan Iswestija gewesen, in dem es am Tag der Abreise Chruschtschows hieß, die Sowjetunion könne nicht länger auf eine Einigung mit dem Westen warten, bevor sie in Berlin in Aktion trete. 23
Chruschtschow platzte geradezu vor Stolz, als er den begeisterten Menschen winkte, die sich an den unzähligen Bahnhöfen längs seiner Reiseroute versammelt hatten. Viele Gebäude waren mit Flaggen, Plakaten und Wimpeln geschmückt. Besonders berührte Chruschtschow ein dunkelrotes Banner, das die ganze Front des Provinzbahnhofs bei Mukatschewo in der ukrainischen Gegend nahe seinem Geburtsort bedeckte: MÖGE ES DIR GUT GEHEN, LIEBER NIKITA SERGEJEWITSCH! 24
In Kiew jubelten ihm tausende zu, als er durch die Stadt fuhr und einen Kranz am Grab des beliebten Dichters Taras Schewtschenko niederlegte. In Čierna, der ersten Station auf tschechoslowakischem Boden, hatte der Parteichef des Landes, Antonín Novotný, dafür gesorgt, dass sein eigenes, riesiges Porträt immer neben dem von Chruschtschow hing. Eine Kapelle spielte mit Glockenspiel und Trompeten beide Nationalhymnen. Uniformierte Jungpioniere, die Jugendorganisation der Partei, überschütteten Chruschtschow geradezu mit Blumen, und hübsche kleine Mädchen in bestickten Blusen boten ihm die traditionellen Gastgeschenke Brot und Salz dar.
Seine Gastgeber in Bratislava inszenierten sorgfältig den letzten Aufenthalt vor Wien. Öffentliche Gebäude waren mit Bannern geschmückt: RUHM CHRUSCHTSCHOW – DEM UNERSCHÜTTERLICHEN FRIEDENSKÄMPFER. Er und Novotný erklärten vor den Menschenmengen, dass man eine »endgültige Lösung« für das Berlin-Problem anstrebe. Dabei waren sie sich offenbar nicht
darüber im Klaren, welche Parallelen man bei dieser Wortwahl zu Hitlers »Endlösung« ziehen könnte. Die Einheimischen feierten am Vorabend des Wiener Gipfeltreffens mit einem Feuerwerk über der mittelalterlichen Burg in der Altstadt Trenčin, wo sowjetische Truppen im April 1945 das Gestapo-Hauptquartier erobert hatten.
Mit einer letzten vorsorglichen Maßnahme verschob Chruschtschow die Abfahrt von Bratislava nach Wien auf 14 Uhr, vier Stunden später als ursprünglich geplant. Nach den Meldungen von Menschenmengen, die Kennedy in Paris feierten, gelangten Chruschtschows Berater zu dem Schluss, dass sie nur dann einen würdigen Empfang in Wien gewährleisten konnten, wenn die kommunistischen Gewerkschaften Gelegenheit hatten, ihre Mitglieder nach Feierabend zusammenzutrommeln.
PARIS
MITTWOCH, 31. MAI 1961
In der Rolle des selbst ernannten Mentors erzählte de Gaulle Kennedy, wie er mit Chruschtschow bei seinen jähzornigen Anfällen umgegangen war. Er warnte Kennedy, dass Chruschtschow bei den Gesprächen in Wien früher oder später unweigerlich auch mit Krieg drohen werde.
De Gaulle rief sich in Erinnerung, wie er dem sowjetischen Führer einst gesagt hatte: »Sie behaupten, Sie würden Entspannung anstreben. Wenn das stimmt, dann tun Sie doch etwas für die Entspannung. Wenn Sie Frieden wollen, dann fangen Sie mit Abrüstungsverhandlungen an. Unter diesen Umständen könnte sich die ganze Weltsituation nach und nach verändern, und dann werden wir die Frage Berlins und die ganze deutsche Frage lösen. Wenn Sie jedoch daran festhalten, die Berlin-Frage im Kontext des Kalten Kriegs aufzuwerfen, dann ist keine Lösung möglich. Was wollen Sie eigentlich? Wollen Sie einen Krieg?« 25
Daraufhin hatte Chruschtschow geantwortet, dass er keinen Krieg wolle.
In diesem Fall, belehrte ihn der Franzose, solle er auch nichts tun, um ihn herbeizuführen.
Kennedy glaubte nicht, dass der Umgang mit Chruschtschow so einfach sein würde. Er sagte dem französischen Präsidenten beispielsweise, er wisse wohl, dass er, de Gaulle, eben aus diesem Grund eigene Atomwaffen wünsche,
weil er daran zweifle, dass die Vereinigten Staaten jemals bei einem nuklearen Schlagabtausch mit Russland New York für Paris – geschweige denn Berlin – riskieren würden. Wenn schon der General so sehr an der amerikanischen Entschlossenheit zweifle, warum sollte es da Chruschtschow anders ergehen, wollte Kennedy wissen. 26
De Gaulle ließ sich darauf nicht ein. Das sei der Moment für ein klares Signal der amerikanischen Entschlossenheit, unabhängig davon, ob der französische Präsident selbst daran glaube. »Es ist wichtig zu zeigen, dass wir nicht die Absicht haben, eine Änderung der Situation zuzulassen«, sagte de Gaulle. » Jeder Rückzug aus Berlin, jede
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