Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt
Veränderung des Status, jeder Truppenabzug, jede weitere Behinderung der Verkehrswege und Kommunikation würde eine Niederlage bedeuten. Sie hätte einen fast völligen Verlust Deutschlands und sehr schwere Verluste in Frankreich, Italien und anderswo zur Folge.« Überdies müsse man, so de Gaulle, Chruschtschow deutlich zu verstehen geben, dass er, »wenn er einen Krieg will, ihn auch bekommen wird«. Der französische Präsident war überzeugt, dass Chruschtschow niemals eine militärische Konfrontation riskieren werde, wenn Kennedy sich weigerte, dem sowjetischen Diktat Folge zu leisten.
Hingegen fürchtete de Gaulle viel mehr den sowjetischen und ostdeutschen Ansatz, allmählich die westliche Position in Berlin zu untergraben: Dann hätten »wir verloren, ohne dass es so aussah, als hätten wir verloren, und doch auf eine Weise, die die ganze Welt verstehen würde. Insbesondere besteht die Bevölkerung Berlins nicht ausschließlich aus Helden. Angesichts dessen, was sie als unsere Schwäche interpretieren würden, könnten sie anfangen, Berlin zu verlassen, sodass die Stadt zu einer leeren Hülle würde, die vom Osten geschluckt wird.«
Es verblüffte Kennedy, dass de Gaulle es sich herausnahm, so große Reden über Berlin zu schwingen, weil Frankreich nicht Amerikas Sicherheitsbürde in der Stadt teilen musste. De Gaulle blieb in der Frage möglicher Lösungen so vage, dass Kennedy versuchte, eine klarere Antwort zu bekommen. Er sagte, er sei ein praktisch denkender Mensch, der sich wünsche, dass de Gaulle konkret den Punkt nenne, an dem der französische Staatschef wegen Berlin in den Krieg ziehen würde.
De Gaulle erwiderte, dass er wegen keiner einzigen Frage, die derzeit diskutiert werde, einen Krieg beginnen würde: etwa wenn die Sowjets unilateral einen Friedensvertrag mit Ostdeutschland unterzeichneten oder den Vier-Mächte-Status in der Stadt änderten, um den Ostdeutschen eine größere Souveränität
über Ostberlin zu gewähren – zum Beispiel indem sie ihnen die Befugnis übertrügen, an den Grenzübergängen Reisedokumente abzustempeln. »Das ist an sich noch kein Grund für einen militärischen Vergeltungsschlag von unserer Seite«, sagte er.
Deshalb hakte Kennedy noch einmal nach: »Auf welche Weise und zu welchem Zeitpunkt sollen wir also Druck ausüben?« Der US-Präsident klagte, dass die Sowjets und Ostdeutschen unzählige Möglichkeiten hätten, die Lage in Berlin zu erschweren oder gar Westberlins Ruin herbeizuführen, aber ausschließlich mit Methoden, die nicht unbedingt eine Reaktion des Westens auslösen würden. »Wie antworten wir darauf?«, fragte er.
Der Westen solle nur dann militärisch antworten, meinte de Gaulle, wenn die Sowjets oder die Ostdeutschen militärisch vorgingen. »Wenn entweder Chruschtschow oder seine Lakaien gewaltsam unsere Verbindungen zu Berlin kappen, dann müssen wir Gewalt einsetzen.«
Dem stimmte Kennedy zu, war jedoch nicht der Meinung, dass jede Schwächung der westlichen Position in Berlin sofort eine Katastrophe herbeiführe. Er sagte, das wäre für Westdeutschland und ganz Europa gewiss ein Schlag, »der zwar nicht tödlich, aber auf jeden Fall heftig« wäre.
Kennedy fragte de Gaulle um Rat, wie er in Wien Chruschtschow am besten die Standhaftigkeit des Westens verdeutlichen könne angesichts der Tatsache, dass der sowjetische Führer seit der Invasion in der Schweinebucht die amerikanische Entschlossenheit stark anzweifelte. Er wollte wissen, was der französische Staatschef von den amerikanischen und alliierten Eventualplänen hielt, um auf jede neue Berlin-Blockade mit einer Demonstration von annähernd der Stärke einer Kompanie, wenn nötig gar einer Brigade, zu antworten.
Angesichts der konventionellen Überlegenheit der Sowjets hinsichtlich Berlins, so erklärte de Gaulle Kennedy, könne er die Sowjets nur mit der Bereitschaft, Kernwaffen einzusetzen, abschrecken. Aber genau das wollte der US-Präsident eigentlich vermeiden.
»Wir müssen auf jeden Fall deutlich zu verstehen geben, dass es einen allgemeinen Krieg bedeutet, falls es zu irgendwelchen Kämpfen um Berlin kommen sollte«, sagte de Gaulle.
Bis zum großen Festbankett im Élysée-Palast am selben Abend hatten Jack und Jackie, wie die Franzosen das Präsidentenpaar nannten, das Land bereits im Sturm erobert. Sie setzten sich gemeinsam mit dreihundert anderen Gästen in dem mit Spiegeln und Gobelins geschmückten Speisesaal an eine riesi-ge
Tafel, die von einem
Weitere Kostenlose Bücher