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Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt

Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt

Titel: Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frederick Kempe
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Weiden, gerade noch auszumachen. 31
    Wenige Minuten zuvor hatte der sowjetische Parteichef seine stämmigen Beine aus der schwarzen sowjetischen Limousine geschwungen, während Kennedy locker die Stufen hinunterlief, um ihn zu empfangen. Die chronischen Schmerzen, die von Spritzen, Pillen und einem eng geschnürten Korsett gelindert wurden, merkte man ihm überhaupt nicht an. In Anbetracht der hohen Erwartungshaltung ließ es sich kaum vermeiden, dass die erste Begegnung zwischen Chruschtschow und Kennedy peinlich verlief.
    In dem geübten Tonfall eines politischen Wahlkämpfers gab Kennedy in breitem Bostoner Englisch eine reflexartige Begrüßung von sich: »Wie geht es Ihnen? Es freut mich, Sie kennen zu lernen.«
    »Ganz meinerseits«, antwortete Chruschtschow über den Dolmetscher.
    Der kahle Kopf des kommunistischen Machthabers reichte Kennedy nur bis zur Nase. O’Donnell erinnerte sich später, dass er es sehr bedauerte, die Kamera nicht mitgenommen zu haben, um diesen historischen Augenblick festzuhalten. Ihm fiel auf, dass Kennedy »den stämmigen kleinen Sowjetführer« eine Spur zu offensichtlich musterte. 32

    Bild 51
    3. Juni, Wien: Kennedy und Chruschtschow schütteln sich am ersten Tag ihrer historischen Gespräche die Hand.
    Kennedy trat zurück, die eine Hand in der Jackentasche, und ließ langsam mit unverhohlener Neugier den Blick über Chruschtschow wandern. Selbst als die Fotografen um weitere gestellte Händedrücke baten, beäugte Kennedy Chruschtschow immer noch wie ein Großwildjäger, der nach jahrelanger Suche auf eine unbekannte Spezies getroffen war.
    Chruschtschow sagte halblaut etwas zu Außenminister Gromyko und ging dann ins Gebäude.
     
    In seiner Chronik der ersten Begegnung zwischen Kennedy und Chruschtschow sinnierte Russell Baker, der Reporter der New York Times, wie sehr sich doch die Begrüßungszeremonie geändert hatte, seit sich 146 Jahre zuvor Metternich, Talleyrand und andere europäische Diplomaten in Wien getroffen hatten, um auf dem Wiener Kongress eine hundert Jahre währende Stabilität in Europa zu schaffen. »Hier in der Heimat des Walzers und des
Schmalzes, der heißen Würstchen und der Habsburger trafen sich die beiden mächtigsten Männer heute in einem Musikzimmer«, schrieb er. 33
    Das Wall Street Journal stellte die beiden Männer fast schon wie Boxer vor, die zu einem Schwergewichtskampf in den Ring traten: »Der amerikanische Präsident ist rund eine Generation jünger, hochgebildet; Chruschtschow hingegen machte harte Lehrjahre durch, seine wichtigsten politischen Ziele lagen eher hinter als vor ihm. Die Auseinandersetzung dieser beiden Männer – die in ihrer Zeit so mächtig sind wie einst Napoleon und Alexander I., als sie sich 1807 auf einem Floß auf der Memel trafen, um die Landkarte Europas neu zu gestalten – vor der Kulisse des alten Wien, einst selbst ein Machtzentrum, heute die Hauptstadt eines kleinen Staates, der einfach nur in Frieden gelassen werden möchte, diese Auseinandersetzung hat eindeutig etwas Dramatisches. «
    Das Blatt war der Meinung, dass es »das am wenigsten schlimme« Ergebnis wäre, wenn Kennedy sich einfach an seine Zusage hielte, dass er nur gekommen sei, um Chruschtschow persönlich kennen zu lernen, und wenn er mit ihm weder über Berlin noch über etwas anderes verhandeln würde.
    Die europäischen Zeitungen ergingen sich weitschweifig in den historischen Konsequenzen des Treffens. Die Neue Zürcher Zeitung bedauerte es, dass Kennedy, gegen früheren Rat, unvorbereitet gekommen sei, um sich mit einem uneinsichtigen Kremlchef zu treffen. Die Wochenzeitung Die Zeit berichtete aus Wien: »Die Frage, um die es dabei für den Westen geht, ist dieselbe, die einst Demosthenes in seinen Reden gegen Philipp von Mazedonien den Athenern vorlegte: ›Wenn aber ein anderer mit den Waffen in der Hand und an der Spitze einer großen Macht euch gegenüber zwar den Friedfertigen spielt, in Wahrheit aber Krieg führt, was bleibt dann übrig, als sich in Verteidigungszustand zu setzen?‹« 34
    Sechs Jahre zuvor hatten die Österreicher ihren Staatsvertrag mit den vier Alliierten des Weltkriegs unterzeichnet, der es ihnen ermöglichte, dem Schicksal der benachbarten Staaten des Warschauer Pakts zu entgehen und ein freies, souveränes, demokratisches und neutrales Land aufzubauen. Deshalb waren die Wiener besonders angetan von ihrer frisch geschaffenen Bühne als neutralem Boden für ein Treffen der Supermächte. Herbert von Karajan

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