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Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt

Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt

Titel: Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frederick Kempe
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dirigierte an der Staatsoper Wagner, und in den Wiener Kaffeehäusern und Straßen drängelten sich die Einheimischen, die ein Schwätzchen halten wollten und hofften, einen kurzen Blick auf ihre Gäste zu erhaschen.
    Der Wiener Teenager Erich Frankl kritzelte in sein Tagebuch, dass er und
seine Freunde Kennedy als eine Art »Popidol« anbeteten. Er hatte in seinem Zimmer ein Foto von ihm aufgehängt und bedauerte es, dass das eigene Land keine solchen Vorbilder hervorbrachte. Die etwa gleichaltrige Veronika Seyr machte sich wegen des Rummels um den Gipfel mehr Sorgen. Da sie nur fünf Jahre zuvor erlebt hatte, mit welcher Brutalität die Sowjets in Budapest vorgegangen waren, bekam sie bei der verstärkten Polizeipräsenz in ganz Wien regelrecht Angst. Von einem Kirschbaum aus sah sie sowjetische Jagdflugzeuge und Hubschrauber über der Stadt kreisen, als Chruschtschow ankam. Vor Schreck, weil sie eine neuerliche Invasion fürchtete, fiel sie vom Baum und lag eine Zeitlang »wie ein Maikäfer« auf dem Rücken und sah immer noch den Hubschraubern über ihr zu. 35
    Bild 40
    Zu Beginn wird noch allgemein gelächelt.
    Da Kennedy ahnte, dass ihm zwei Tage voller anstrengender Diskussionen bevorstanden, eröffnete er das Gespräch mit ein wenig Smalltalk über ihre erste Begegnung von 1959 im Senatsausschuss für auswärtige Beziehungen während des ersten Besuchs des sowjetischen Führers in den Vereinigten Staaten. 36
    Wie um zu beweisen, dass er hier die Nase vorn haben werde, entgegnete Chruschtschow, er könne sich noch gut an die Begegnung erinnern, habe aber
»nurmehr die Zeit gehabt, einige Worte zu wechseln«, weil der damalige Senator zu spät gekommen sei – so sollte es Kennedy bei den Gesprächen noch oft ergehen.
    Der sowjetische Führer erinnerte Kennedy daran, dass er schon damals weitsichtig bemerkt habe, er habe gehört, Kennedy sei ein junger und vielversprechender Politiker. Der Präsident gab zurück, Chruschtschow habe damals auch gesagt, dass Kennedy für einen Senator zu jung wirke.
    »Habe ich das wirklich gesagt?«, wunderte sich der Sowjetführer und fügte hinzu: »Ich bin gewöhnlich bemüht, jungen Menschen nicht zu sagen, dass sie jung sind, weil ich weiß, dass die Jungen immer älter aussehen wollen, ebenso wie die Alten immer jünger aussehen wollen, als sie sind.« Chruschtschow meinte, er habe ebenfalls jünger als sein Alter ausgesehen, bevor er mit zweiundzwanzig frühzeitig ergraut sei. Er lachte und sagte, dass er »gern das Alter mit dem US-Präsidenten tauschen beziehungsweise den Überschuss an Jahren mit ihm teilen« würde.
    Nach diesem anfänglichen Geplänkel bestimmte Chruschtschow den Ton und das Tempo der Unterhaltung, indem er Kennedys kurze Stellungnahmen und Fragen mit weitschweifigen Auslassungen beantwortete. Um gleich zu Beginn einen Vorteil zu haben, hatten die Amerikaner gewünscht, dass die Gespräche am ersten Tag in der Residenz des US-Botschafters stattfanden. Die Sowjets hatten akzeptiert, dass die beiden mächtigsten Männer der Welt am zweiten Tag auf sowjetisches Territorium umzogen. Aber auch in der US-Botschaft fühlte sich Chruschtschow wie zu Hause.
    Bemüht, die Kontrolle des Gesprächs wiederzugewinnen, umriss Kennedy seine Hoffnungen für die Gespräche. Er sagte, er würde sich wünschen, dass ihre beiden mächtigen Länder – »die zahlreiche Verbündete haben und in verschiedenen sozialen Systemen leben, Länder, die in den verschiedenen Teilen der Erde im Wettbewerb miteinander stehen« – Mittel und Wege fänden, um Situationen zu vermeiden, die zu einem Konflikt führen könnten.
    Im Gegenzug zählte Chruschtschow bis ins Kleinste seine langjährigen Bemühungen auf, die, wie er sagte, »Beziehungen zu den Vereinigten Staaten und ihren Verbündeten auf die Sicherung einer friedlichen und freundschaftlichen Entwicklung« hin auszurichten. Gleichzeitig wolle die Sowjetunion jedoch, wandte er ein, »keine Verständigung auf Kosten ihrer Verbündeten, auf Kosten irgendwelcher dritter Staaten, denn ein solches Bestreben würde nicht den Wunsch bedeuten, den Frieden zu sichern«.
    Die beiden Männer hatten sich darauf geeinigt, die Diskussion über Berlin
für den zweiten Tag aufzuheben, und deshalb ging es in den ersten Gesprächen vor allem um die allgemeine Beziehung und Abrüstungsfragen.
    Chruschtschow meinte, es sei seine größte Sorge, dass die Vereinigten Staaten versuchen könnten, ihre wirtschaftliche Überlegenheit über die Sowjets

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