Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt
Nenner zu finden, argumentierte Kennedy, der Kommunismus könne dort angesiedelt bleiben, wo er bereits existiere, nämlich in Ländern wie Polen und der Tschechoslowakei, er könne aber dort nicht akzeptiert werden, wo das sowjetische System noch nicht etabliert sei. Amerikanische Regierungsvertreter, die später die Mitschriften lasen, zeigten sich schockiert darüber, dass Kennedy eine weit größere Bereitschaft als irgendein Präsident vor ihm an den Tag legte, die bestehende Spaltung Europas in Einflusssphären zu akzeptieren. Kennedy schien anzudeuten, dass er die Zukunft
derjenigen opfern würde, die in Ländern des Warschauer Pakts um die Freiheit kämpften, falls der Kreml die Hoffnung aufgäbe, den Kommunismus anderswo auszubreiten.
Chruschtschow stellte Kennedys offenkundige Überzeugung infrage, die Sowjetunion sei für sämtliche kommunistischen Bewegungen auf der Welt verantwortlich. Wenn Kennedy damit sagen wolle, dass er den Vormarsch kommunistischer Ideen überall zu bekämpfen vorhabe, wo sie bislang noch nicht existierten, argumentierte Chruschtschow, dann werde »das unvermeidlich zu Konflikten zwischen uns führen«.
Im Stil einer weiteren Lehrstunde für einen begriffsstutzigen Schüler erinnerte Chruschtschow den US-Präsidenten daran, dass ursprünglich nicht Russen die kommunistischen Gedanken formuliert hatten, sondern die in Deutschland geborenen Karl Marx und Friedrich Engels. Er meinte im Scherz, dass sich die Konzepte – selbst wenn er sich vom Kommunismus lossagen würde (wobei er natürlich keinesfalls die Absicht hatte) – dennoch weiterentwickeln würden. Er forderte Kennedy auf, ihm zuzustimmen, dass es »für die Entwicklung friedlicher Beziehungen zwischen unseren Ländern erforderlich« sei, anzuerkennen, dass Kommunismus und Kapitalismus die zwei Hauptideologien der Welt seien. Naturgemäß freue sich jede Seite darüber, so Chruschtschow, wenn sich ihre Ideologie ausbreite.
Wenn das Gipfeltreffen danach entschieden werden sollte, welche Seite das Gespräch stärker unter Kontrolle hatte, so ging Chruschtschow gleich zu Beginn deutlich in Führung. In seinem ganzen Leben hatte Kennedy nichts erlebt, das ihn auf die unerschütterliche Kraft Chruschtschows vorbereitet hätte. Dabei wusste Thompson, der das Geschehen mit anderen aus der US-Delegation vom Rand aus verfolgte, aus Erfahrung, dass der Parteichef erst warmlief.
»Ideen kann man nicht auf Bajonettspitzen in ein Land tragen, wie man früher sagte, obwohl es heute richtiger wäre zu sagen – auf Raketenspitzen«, sagte Chruschtschow. In einem Krieg der Ideen würde sich die sowjetische Politik auch ohne gewaltsame Methoden durchsetzen.
Ob denn Mao Tse-tung nicht erklärt habe, wandte Kennedy ein, »die [politische] Macht würde auf Bajonetten in ein Land getragen«? Kennedy war über die wachsenden chinesisch-sowjetischen Spannungen unterrichtet worden und startete einen Versuchsballon.
»Mao Tse-tung konnte das nicht sagen«, leugnete Chruschtschow dies ganz einfach, nachdem er selbst Maos Lust auf einen Krieg gegen den Westen ver-spürt
hatte. Mao sei, stellte Chruschtschow fest, »ein Marxist, ein Kommunist, und wir Kommunisten waren […] stets Gegner von Kriegen«.
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Chruschtschow beginnt nach kurzer Zeit, die Diskussion zu beherrschen.
Um zu seiner Agenda des Abbaus von Spannungen und der Friedenssicherung zurückzukehren, erklärte Kennedy, er wolle unbedingt verhindern, dass »im Fall eines Rechenfehlers von irgendeiner Seite« ein Krieg ausbreche, nach dem »die Wiedergeburt unserer Länder für lange Zeit unmöglich« wäre – eine Anspielung auf die lange radioaktive Strahlung nach einem atomaren Schlagabtausch.
»Rechenfehler?«
Chruschtschow spuckte das Wort wie einen Ekel erregenden Gegenstand aus.
»›Rechenfehler‹! ›Rechenfehler‹! ›Rechenfehler‹! Das lese ich häufig in der Presse der USA und ihrer Verbündeten in Europa, und von überall bekomme ich nichts als dieses verdammte Wort ›Rechenfehler‹ zu hören.« 39
Das Wort sei außerordentlich ungenau, brachte Chruschtschow hervor. Welche Bedeutung habe denn dieses Wort ›Rechenfehler‹? Er wiederholte den Begriff ständig, um den Effekt zu steigern. Wolle der Präsident etwa, dass »wir wie Schulkinder in der Schulbank sitzen und die Hände auf den Tisch legen«, fragte er und fügte hinzu, dass er nicht garantieren könne, dass kommunistische Ideen an der sowjetischen Grenze haltmachten. Gewiss, sagte er, »wir
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