Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt
auf eine Weise einzusetzen, die einen Konflikt auslösen könnte – eine versteckte Anspielung auf die wachsende Abhängigkeit der Sowjetunion vom Handel mit dem Westen und seinen Krediten. Er erklärte, dass er im Laufe der Zeit die Sowjetunion reicher als die Vereinigten Staaten machen werde, »nicht durch Eroberungen«, sondern durch bessere Nutzung der eigenen Ressourcen.
Kennedys Einwurf, wie beeindruckt er von den steigenden sowjetischen Wachstumsraten gewesen sei, beachtete Chruschtschow kaum und riss wiederum das Heft des Handelns an sich. Er beschwerte sich, dass John Foster Dulles, Eisenhowers Außenminister von 1953 bis 1959 und Gegner des Sowjetsystems, versucht habe, den Kommunismus abzuschaffen. Dulles habe sich, so Chruschtschow, der den Namen wie einen Fluch aussprach, sowohl de facto als auch de jure gegen den Eindruck gewehrt, dass beide Systeme nebeneinander existieren könnten. Chruschtschow sagte zu Kennedy, dass er während ihrer Gespräche nicht versuchen werde, den Präsidenten zu bekehren, »denn ich bin überzeugt, dass ich Sie nicht von den Vorzügen des Kommunismus überzeugen kann, ebenso wie Sie mich nicht von den Vorzügen des Kapitalismus überzeugen können«.
In Gesprächen vor dem Gipfel hatte Botschafter Thompson Kennedy gewarnt, sich auf eine ideologische Debatte mit Chruschtschow einzulassen, weil dieser Kurs nur wertvolle Zeit verschlingen würde. Im Übrigen konnte Kennedy die Auseinandersetzung nach Thompsons Einschätzung gegen einen Kommunisten mit lebenslanger Erfahrung in der dialektischen Argumentationsweise nicht gewinnen. Kennedy war jedoch, als er nach Wien kam, von seiner eigenen Überredungskunst zu sehr überzeugt, um der Versuchung zu widerstehen. 37
Chruschtschows Äußerungen würden »das Hauptproblem« berühren, sagte Kennedy. Der Präsident nannte es »eine für uns sehr ernste Quelle der Besorgnis«, dass Chruschtschow der Meinung sei, man könne es für angebracht befinden, freie Systeme in Ländern, die mit den Vereinigten Staaten verbündet seien, abzuschaffen, aber gegen sämtliche Bemühungen des Westens zu protestieren, den Kommunismus in der sowjetischen Einflusssphäre zurückzudrängen.
Mit ruhiger Stimme erklärte Chruschtschow Kennedy, er lege »unsere Politik falsch aus«. Die Sowjetunion oktroyiere niemals anderen ihr System
auf, sondern begleite lediglich den historischen Wandel. Darauf hielt Chruschtschow eine Art Geschichtsvorlesung über den Lauf der Weltgeschichte vom Feudalismus bis zur Französischen Revolution. Das sowjetische System werde am Ende wegen seiner Vorteile den Sieg davontragen, sagte er, fügte aber hinzu, dass Kennedy wohl genau das Gegenteil glaube. »Aber das ist keine Streitfrage zwischen uns und noch weniger ein Grund für bewaffnete Konflikte«, meinte er.
Auch im Folgenden schlug Kennedy den Rat seiner Experten in den Wind und beschloss erneut, sich mit dem sowjetischen Führer in ideologischen Fragen zu messen. Später erklärte der US-Präsident, er sei überzeugt gewesen, dass er sich in einer ideologischen Debatte gegen Chruschtschow behaupten musste, wenn er bei anderen Themen ernst genommen werden wollte. Die Vereinigten Staaten stünden auf dem Standpunkt, dass ein Volk »aufgrund der freien Entscheidung« sein System wählen solle, sagte Kennedy zu Chruschtschow. Dem Präsidenten bereite es jedoch Sorge, dass Minderheitsregierungen, die nicht den Willen des Volkes ausdrückten – und die von Freunden Moskaus regiert würden –, die Macht an Orten an sich rissen, an denen die Vereinigten Staaten ein großes Interesse hätten. Die UdSSR halte dies für »historisch unvermeidlich«, betonte Kennedy, die Vereinigten Staaten keinesfalls. Der Präsident fürchtete, dass solche Situationen zu einem militärischen Konflikt zwischen der UdSSR und den USA führen könnten. 38
Chruschtschow fragte sich daraufhin, ob Kennedy vielleicht »einen Staudamm gegen die Entwicklung des menschlichen Geistes errichten« wolle. Falls dem so sei, so stehe das nicht in der Macht des Menschen. »Ideen kann man nicht vernichten. […] Seinerzeit haben die spanischen Inquisitoren Andersgläubige auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Aber eine Idee kann man nicht verbrennen. Wenn man bestrebt ist, eine Idee zu vernichten, so führt das unvermeidlich zu Konflikten. Eine Idee kann man nicht einfangen und in Ketten legen.«
Der sowjetische Führer genoss geradezu den Schlagabtausch. In einem verzweifelten Versuch, einen gemeinsamen
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