Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt
verstehen sehr gut, was ein Krieg unter den gegenwärtigen Umständen bedeutet. […] Lassen Sie uns also diese ›Rechenfehler‹ in den Panzerschrank legen. Dieses Wörtchen macht auf uns keinen Eindruck.«
Der verblüffte Kennedy schreckte zurück und ließ den Sturm über sich ergehen.
Kennedy versuchte zu erklären, was er damit gemeint hatte. Nicht zuletzt mit Blick auf den Zweiten Weltkrieg sagte er: »Die ganze Geschichte Westeuropas bietet viele Beispiele, dass es unmöglich ist, im Voraus zu erraten, wie die eine oder andere Seite als Antwort auf bestimmte Handlungen eines anderen Landes ihr gegenüber reagieren wird.« Die Vereinigten Staaten hatten unlängst nicht die chinesischen Aktionen in Korea vorausgesehen. Er wünsche sich von dem Treffen, »dass jeder von uns eine klarere Vorstellung darüber erhält, wohin jeder von uns geht«.
Vor der Mittagspause sollte Chruschtschow das letzte Wort haben.
Seiner Meinung nach sollten ihre Gespräche dazu dienen, die Beziehungen zu verbessern, nicht zu verschlechtern. Wenn ihm und Kennedy dies gelingen sollte, »dann sind auch die Ausgaben für diese Reise gerechtfertigt«. Mit anderen Worten: Wenn nicht, hätte man das Geld verschwendet und die Hoffnungen der Menschen enttäuscht.
Als die Gesprächspartner auf die Uhr sahen, stellten sie erstaunt fest, dass es bereits 14 Uhr war.
Bei einem Mittagessen mit Beef Wellington im Speisesaal der US-Botschaft gab Chruschtschow weiterhin den Ton an, beschwingt von dem trockenen Martini, den er wie Wodka trank. Er unterhielt die lange Tafel, an der auf
jeder Seite neun Berater und hohe Regierungsvertreter saßen, mit Themen aus der Agrarwirtschaft bis hin zur Raumfahrt. 40 Er prahlte mit Gagarins Flug als erstem Menschen im Weltall, räumte aber ein, dass Gagarins Vorgesetzte ihm anfangs nicht die Steuerung des Raumschiffs anvertrauen wollten. Man meinte, das sei eine zu große Macht für einen Einzelnen.
Kennedy schlug vor, dass die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion über eine gemeinsame Mondexpedition nachdenken sollten.
Nach anfänglicher Ablehnung überlegte Chruschtschow es sich anders. »Also gut, warum denn nicht?«, sagte er. Das schien der erste Fortschritt des Tages zu sein. 41
Nach dem Essen zündete sich Kennedy eine Zigarre an und warf das Streichholz hinter Chruschtschows Stuhl.
Der sowjetische Führer tat so, als wäre er entsetzt. »Wollen Sie mich in Brand stecken?«, fragte er.
Kennedy beruhigte ihn, dass das keinesfalls seine Absicht sei.
»Ah«, sagte Chruschtschow mit einem Grinsen, »ein Kapitalist und kein Brandstifter.« 42
In den Trinksprüchen der beiden Männer nach dem Essen spiegelte sich das ungleiche Verhältnis der früheren Gespräche wider. Kennedy fasste sich kurz, beglückwünschte Chruschtschow zu seiner »Energie« und äußerte die Hoffnung auf künftige fruchtbare Treffen.
Der sowjetische Staatsmann antwortete ausführlicher. Er sprach darüber, wie die beiden Länder gemeinsam die Macht hätten, mit vereinten Kräften jeden Krieg zu beenden, den irgendein Land begänne. Er sprach über seine anfangs gute Beziehung zu Eisenhower. Obwohl Eisenhower die Verantwortung für den U-2-Zwischenfall übernommen hatte, der ihre Beziehung belastet hatte, meinte Chruschtschow, er sei sich fast sicher, »dass Präsident Eisenhower nichts von diesem Flug gewusst«, sondern die Schuld »sozusagen aus Ritterlichkeit« auf sich genommen habe. Chruschtschow erklärte, der Flug sei von jenen inszeniert worden, die eine Verschlechterung der amerikanisch-sowjetischen Beziehungen wünschten – und sie hätten Erfolg damit gehabt. 43
Er äußerte den Wunsch, Kennedy in der Sowjetunion zu empfangen, sobald »die Zeit kommt«. Anschließend verurteilte er aber den Besuch seines letzten Gastes, des ehemaligen Vizepräsidenten Nixon, der offenbar glaubte, »wenn er nur den Sowjetmenschen eine Traumküche zeige, die überhaupt nie existiert hatte und auch nie in den USA existieren würde, dann würde der
Sozialismus gleich zusammenbrechen«. Nur ein Mensch wie Nixon konnte sich einen solchen Unsinn ausdenken, meinte Chruschtschow.
Dann vertraute er Kennedy an, dass ihm persönlich eigentlich das Verdienst an der Wahlniederlage Nixons gebühre, zu der es deshalb gekommen war, weil der Sowjetführer sich geweigert hatte, die verhafteten amerikanischen Flieger freizulassen, die seine Truppen abgeschossen hatten. Wenn er die Männer freigelassen hätte, so Chruschtschow, dann hätte
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