Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt
auch höchst verärgert ausgesehen … Als ich ihn anschaute, tat er mir einfach leid, und ich wurde ebenfalls leicht ärgerlich. Ich wollte ihn nicht verärgern. Ich hätte es viel lieber gehabt, wenn wir uns in einer besseren Stimmung
getrennt hätten. Aber ich konnte ihm da auch nicht helfen. […] Zwischenmenschlich gesehen, bedauerte ich seine Enttäuschung.«
»Politik ist ein gnadenloses Geschäft«, schloss Chruschtschow seine Erinnerungen an diesen Tag ab. 26
Der Sowjetführer konnte sich sehr gut vorstellen, wie die amerikanischen Hardliner argumentieren würden, wenn sie von Kennedys schlechtem Abschneiden bei diesem Gipfel erfahren würden: »Wir haben doch schon immer gesagt, dass die Bolschewisten die weiche Verhandlungssprache nicht verstehen. Sie verstehen nur Machtpolitik. Die haben Sie ausgetrickst. Die haben Ihnen eine lange Nase gemacht. Sie haben eine gute Abreibung bekommen, und jetzt kommen Sie mit leeren Händen und völlig blamiert nach Hause.«
Nachdem er Kennedy am Flughafen verabschiedet hatte, führte der österreichische Außenminister Bruno Kreisky mit Chruschtschow ein längeres Gespräch. 27 »Der Präsident war auf dem Flughafen sehr bedrückt«, erzählte Kreisky. »Er schien verärgert und hatte einen völlig veränderten Gesichtsausdruck. Offensichtlich verlief das Treffen nicht sehr gut für ihn.«
Chruschtschow meinte dazu, dass er Kennedys schlechte Stimmung auch bemerkt habe. Dann erklärte er Kreisky, was seiner Meinung nach Kennedys Problem sei: »Er hat die Neuverteilung der Kräfte immer noch nicht ganz begriffen. Außerdem befolgt er immer noch die Politikansätze seiner Vorgänger, vor allem was die deutsche Frage betrifft. Er ist nicht bereit, die Weltkriegsdrohung, die über Berlin hängt, zu vertreiben. Unsere Gespräche waren insofern hilfreich, als sie uns Gelegenheit gaben, uns gegenseitig auf den Zahn zu fühlen und uns kennen zu lernen. Aber das war alles, und das war nicht genug.«
Da er die beiden Gipfeltage noch frisch im Gedächtnis hatte, konnte Chruschtschow danach Kreisky einen Großteil des Dialogs mit Kennedy fast wörtlich wiedergeben. Er wusste, dass Kreisky andere linke europäische Politiker, zu denen auch der Berliner Bürgermeister Willy Brandt gehörte, über seinen Triumph informieren würde.
Im Gegensatz zu Kennedy hatte es Chruschtschow nicht eilig, von Wien abzureisen. Während der sowjetische Ministerpräsident einem Galadinner beiwohnte, das die österreichische Regierung zu seinen Ehren veranstaltete, leckte Kennedy auf dem Weg nach London seine Wunden.
Kennedy machte aus seinem schwachen Abschneiden auf dem Gipfel keinen Hehl. Während er zusammen mit Außenminister Rusk in einer schwarzen
Limousine, auf deren Kotflügeln die amerikanische Flagge und die Präsidentenstandarte flatterten, von der sowjetischen Botschaft wegfuhr, schlug er vor Wut mit der flachen Hand auf die Ablage unterhalb der Heckscheibe. 28 Vor allem Rusk war schockiert, dass Chruschtschow mehrmals das Wort »Krieg« gebraucht hatte, ein Begriff, den Diplomaten auf jeden Fall zu vermeiden suchten und gewöhnlich durch eine ganze Reihe von weniger alarmierenden Synonymen zu ersetzen pflegten.
Rusk spürte, dass der Präsident trotz der zahlreichen Briefings vor dem Treffen auf Chruschtschows »einschüchternde Brutalität« nicht vorbereitet gewesen war. Das Ausmaß des Wiener Fehlschlags würde nicht so leicht zu messen sein wie das Fiasko in der Schweinebucht. Dieses Mal gab es keine toten Exilkämpfer in einer schlecht ausgewählten Landezone, die ihr Leben in der Erwartung riskiert hatten, dass Kennedy und die Vereinigten Staaten sie nicht im Stich lassen würden. Dennoch könnten die Folgen sogar noch blutiger werden. Da Chruschtschows Verdacht, Kennedy sei ein schwacher Präsident, bestätigt worden war, könnte der Sowjetführer jetzt genau jenen »Rechenfehler« begehen, der zu einem Atomkrieg führen würde.
In London wollte Kennedy Premierminister Macmillan die Denkschrift 29 zeigen, die die sowjetischen Forderungen nach einer Regelung des Deutschland-Problems innerhalb von sechs Monaten enthielt und widrigenfalls schlimme Folgen androhte. Wenn die Sowjets diese Note veröffentlichten, wovon Kennedy ausging, würden seine Kritiker ihm vorwerfen, er sei in Wien in eine Berlin-Falle geraten, die er hätte voraussehen müssen.
Kennedy wollte den Fehlschlag des Treffens nicht vertuschen. Wie sollte er aber dessen Ausgang einem Pressegefolge
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