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Berlin blutrot

Berlin blutrot

Titel: Berlin blutrot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: u.a. Sebastian Fitzek
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hatte, nämlich zu tanzen, wie sie sich gegen ihre Eltern durchsetzen musste, die einen Bauernhof in Vorpommern hatten, und wie für sie das Berliner Staatsballett immer der größte Traum ihres Lebens gewesen war.
    Er ließ sich keine Gefühlsregung anmerken. Er blieb unverbindlich und höflich, kam nie zu früh zu Verabredungen und blieb nie zu lang, und als er genug Material für eine Reportage zusammen hatte, als die Zeit reif war, endlich sein Versprechen einzulösen, den Redakteur vom Fernsehen anzurufen, irgendetwas zu tun, da schreckte er wieder davor zurück, wälzte sich die ganze Nacht herum und dachte daran, dass sie ihn immer noch nicht ansah.
    Er ärgerte sich. So sehr, dass er entschied, sie einfach aus seinem Gedächtnis zu streichen.
    Er fand aber keine Ruhe. Im Gegenteil. Nun, da er sie nicht mehr sah und auch keinen Grund hatte, sie zu sehen, dachte er noch öfter an sie als zuvor. Er redete sich ein, es sei das schlechte Gewissen, weil er ihr mehr versprochen hatte, als er schließlich einzulösen bereit gewesen war. Also rief er den befreundeten Fernsehredakteur an, von dem er ihr erzählt hatte, schickte ihm seine Notizen über die Probenarbeit und überredete ihn, einen TV-Beitrag über das Ballett zu machen, mit ihr im Mittelpunkt. Wochen später lief der Beitrag tatsächlich im Fernsehen. Er sah ihn sich zusammen mit seiner Frau an, die nebenbei noch an einer Rede herumschrieb und deshalb nicht bemerkte, wie er sich quälte. Joachim konnte immer noch nicht ruhig schlafen, denn natürlich war es nicht das schlechte Gewissen gewesen, das ihn wachgehalten hatte. Es war der Ärger darüber, dass sie ihn nie richtig angesehen hatte. Wie das Mädchen von Renoir. Den Renoir hatte er mittlerweile abgehängt, seine Frau hatte es nicht einmal bemerkt, da sie sein Arbeitszimmer so gut wie nie betrat. Nur die Putzfrau fragte ihn irgendwann nach dem hübschen Mädchen, ob sie das Bild haben könnte, sie würde es gerne bei sich zu Hause hinhängen, wenn es ihm recht sei. Sie hatte es zusammengerollt hinter dem Bücherregal gefunden. Er nickte, war fast schon erleichtert, glaubte, endlich von diesem Mädchen befreit zu sein, ein für alle Mal. Warum hatte er nicht gleich daran gedacht, das Bild zu verbrennen oder wegzuwerfen?
    Weil es nichts geholfen hätte. Weil es ihn nun quälte, dass andere Augen über die Gestalt des Mädchens glitten, Augen, die gar nicht begreifen konnten, was sie da vor sich hatten. Das musste er schon eine Woche später einsehen. Noch immer fand er keinen Schlaf, obwohl er jetzt jeden Abend mit Rotwein nachhalf. Nicht mehr ganz Herr seiner Sinne schrieb er morgens um zwei eine E-Mail an seinen Freund vom Fernsehen, in der er ihn um eine Kopie des Beitrags bat. Am nächsten Morgen hoffte er, diese Mail nur geträumt zu haben, aber schon am Abend überreichte ihm seine Frau einen Umschlag, den ein Kurierfahrer abgegeben hatte. Joachim verschanzte sich in seinem Arbeitszimmer und sah sich die DVD gleich dreimal hintereinander an. Sie sah ihm immer noch nicht in die Augen.
    Ihr Blick ging knapp an der Kamera vorbei.
    Joachim wusste keinen Grund, wie er ein Wiedersehen mit Helene rechtfertigen sollte. Er dachte daran, eine zufällige Begegnung zu inszenieren. Dazu musste er ihre Tagesabläufe noch besser kennen, als er es ohnehin schon tat. Er fuhr zu dem Haus, in dem sie lebte, und beobachtete ihre Wohnung. Folgte ihr wie ein Schatten, trieb sich in dunklen Hofeinfahrten und hinter Mülltonnen herum, um nicht entdeckt zu werden. In der Redaktion hatte er sich krank gemeldet, denn schließlich fühlte er sich auch irgendwie krank, und es würde ihm erst besser gehen, wenn sie ihn ansah. Er sammelte alles, was er im Internet über sie finden konnte, und manchmal rief er sie mit unterdrückter Nummer an, in der Hoffnung, ihre Stimme zu hören. Wenn sie sich meldete, legte er schnell auf.
    Nachdem ein paar Tage vorüber waren, postierte er sich in der Filmbühne, einem Café unweit der Universität der Künste, wo sie morgens oft frühstückte. Er saß im Wintergarten, versteckte sich hinter einer Zeitung und wartete, bis sie kam. Wartete, bis sie bestellt hatte, wartete, bis ihr mageres Frühstück gebracht wurde. Erst dann stand er auf, um sie zu begrüßen. Sie schreckte zusammen, wurde noch blasser, als sie ohnehin war, und er dachte zwei Sekunden lang, dass ihm dieses Entsetzen galt. Aber dann atmete sie erleichtert auf, fing sich, lächelte sogar. Sie bat ihn, Platz zu nehmen,

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