Berlin blutrot
entschuldigte sich für ihr Benehmen, erzählte mit gesenkter Stimme, seit ein paar Tagen das Gefühl zu haben, jemand verfolge sie. Außerdem bekäme sie geheimnisvolle Anrufe. Joachim gab vor, erschüttert zu sein. Bot seine Hilfe an. Behauptete zu wissen, was zu tun sei, und versprach ihr, sich um sie zu kümmern. Diesmal entdeckte er Dankbarkeit in ihrem Gesicht. Sie ging zwar nicht so weit, ihn zu umarmen, aber sie sah ihn endlich an. Und jetzt glaubte Joachim Hartmann, nicht mehr nur ein zufriedener, sondern ein glücklicher Mann zu sein.
Am liebsten wäre es ihm gewesen, er hätte in ihrer Gegenwart einen der anonymen Anrufe entgegennehmen und den Belästiger verschrecken können, aber das ging natürlich nicht. Also richtete er eine anonyme E-Mail-Adresse ein, von der aus er ihr schrieb, damit sie sich weiter belästigt fühlte. Wann immer sie eine neue Mail erhalten hatte, rief sie ihn an, damit er sie sich ansehen konnte. Er hatte behauptet, sein – erfundener – Freund bei der Polizei hätte gesagt, es sei das Beste, in einen Dialog mit dem Belästiger zu treten, um sozusagen den Zauber zu brechen, also berieten sie gemeinsam, was sie dem Unbekannten schreiben sollte. Die Mails waren alle unterschrieben mit „Ein Bewunderer“, und Joachim wurde in jeder Nachricht an Helene direkter. Anfangs noch schrieb er ihr vorsichtige Sehnsuchtsbotschaften, doch mit der Zeit lebte er an der Tastatur seine Begierden aus. Helene wurde immer ängstlicher und verstörter. Er riet ihr, wenn eine besonders aggressive Mail gekommen war, den Proben fernzubleiben und sich mit ihm in der Wohnung einzuschließen. Er brachte ihr Essen mit – Nervennahrung, wie er es nannte, überredete sie sogar, abends Alkohol zu trinken. Er versorgte sie mit den besten Weinen, und da sie schlecht schlief, organisierte er ihr Schlaftabletten. Als sie zwei Kilo zugenommen hatte, redete er ihr gut zu und versprach, mit Robert, dem Choreographen, über ihre Situation zu reden, er würde ihm alles erklären. Joachim aber sprach nie mit seinem Freund über Helene.
Er hatte nicht damit gerechnet, dass sie zusammenbrach. Eines Abends saß sie apathisch in ihrer Wohnung, und er wusste, dass er aufhören musste. Um die Inszenierung abzuschließen, setzte er sich an ihren Laptop und schrieb eine Antwort, die dem „Bewunderer“ ein für alle Mal zeigen würde, woran er war, und dann tat er so, als riefe er seinen Freund bei der Polizei an. Helene sagte er, sie habe nun nichts mehr zu befürchten, und nein, sie müsse diesem Mann auch nie begegnen, wenn man ihn verhaften und verurteilen würde. Es war so leicht. Das Mädchen glaubte ihm, vertraute ihm, hinterfragte nichts. Sie lebte so sehr in ihrem Tanz, dass sie sich kaum für andere Dinge interessierte, und er wunderte sich oft über die Fragen, die sie ihm stellte, und über die großen Augen, mit denen sie ihn ansah, wenn er ihr etwas von der Welt erzählte.
Sie sah ihn jetzt nämlich öfter an.
Obwohl die Mails ausblieben, besuchte er sie weiterhin, so oft er konnte. Und wurde von einem glücklichen Mann zu einem unglücklichen. Denn er merkte, dass er für sie eine Art väterlicher Freund geworden war. Eine Verbindung in die schwierige Alltagswelt, die sie überforderte. Sie brauchte ihn, aber nicht so, wie er es wolle. Er musste etwas tun, bevor es zu spät war. Er überlegte nicht lange und sagte ihr schließlich, dass er sie heiraten wollte. Auf der Stelle sei er bereit, sich scheiden zu lassen. Er hätte genug Geld, um ihr finanzielle Sicherheit zu bieten, er hätte hervorragende Beziehungen, um ihre Karriere zu befördern, kurz: Es gäbe keinen Besseren für sie. Und dass sie sich auf ihn verlassen konnte, hätte er ja nun hinlänglich bewiesen. Noch während er sprach, merkte er, dass er einen Fehler gemacht hatte, denn sie sah ihn nicht mehr an. Sie sah wieder an ihm vorbei, und ihr Blick ließ sich nicht mehr auffangen. Die stille Sehnsucht war in ihren Blick zurückgekehrt, und der Blick galt nicht ihm. Zu schnell zu viel gewollt, dachte er und schob eilig nach, dass er verstehe, wenn sie Zeit brauche, darüber nachzudenken. Er verließ ihre Wohnung, fuhr nach Hause, ging in sein Arbeitszimmer, wo er mittlerweile fast jede Nacht schlief, und wartete.
Nach drei Tagen hielt er es nicht mehr aus und schickte Blumen. Auch am folgenden und darauf folgenden Tag. Dann rief er sie an, aber sie ging nicht ans Telefon. Er fuhr zu ihrer Wohnung, es brannte kein Licht. Er steckte eine Rose,
Weitere Kostenlose Bücher