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Berlin blutrot

Berlin blutrot

Titel: Berlin blutrot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: u.a. Sebastian Fitzek
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bleiben, ihn einklemmen und ihm auf Dauer die Luft abdrücken. Er hatte keine wirklich guten Karten. „Schnell!“ Ich tat ihm den Gefallen. Er hätte mich ja auch bitten können, ihn von der Last der Uhr zu befreien. Er hatte mich aber nicht gebeten. Also drückte ich wieder E. Der Fahrstuhl fuhr wieder abwärts. Wie oft würde er das Rauf und Runter schaffen? Überlegte ich. Wann würde er kapitulieren? spann ich den Gedanken fort. Eine Art Jagdfieber ergriff mich. Ich wollte es herausfinden.
    Tatsächlich. Fahrstuhl kam retour. Jemand musste wiederholt parterre auf die 10 gedrückt haben. Ich dachte an die attraktive Frau mit dem Kopftuch und der Sonnenbrille, die sich im
    Foyer aufgehalten hatte. War sie meine unbekannte Partnerin? Und wenn, welches Motiv hatte sie? Der Fahrstuhl war wieder angekommen. Die Türen öffneten sich. Diesmal war Ströbele schon in einer ganz miesen Verfassung. Seine Augen waren aus den Höhlen gequollen. Er atmete hektisch. Lange konnte er die Uhr nicht mehr halten. Seine Arme erlahmten in Kürze gänzlich. Bald würde die Uhr mit ihrem ganzen Gewicht auf seinem Bauch ruhen und ihm die Luft abschnüren. Bald würde er blau anlaufen. Er würde nach Luft schnappen. Aber er gab noch nicht auf. Ich deutete auf das E. Er nickte. Er war ein harter Bursche. Sprechen konnte er also schon nicht mehr. Er pfiff kurz. Grimassierte ein Lächeln. Pfeifen bis zum letzten Atemzug. Ich drückte das E. Die Türen schlossen sich. Er fuhr wieder abwärts. Jetzt war ich sehr gespannt. Eine freudige Erregung hatte mich gepackt. Lange konnte er die Tour nicht mehr machen. Sein Schicksal würde sich zwischen E und dem zehnten Stock entscheiden. Dann hatte es sich ausgepfiffen. Es war wie gehabt. Der Fahrstuhl kam wieder hoch. Die Türen öffneten sich. Ströbele war am Ende. Seine Arme hielten die Uhr nicht mehr. Sie hingen schlaff herunter. Die Uhr lastete schwer auf seinem Bauch. Er schnappte gierig nach Luft. Seine Bronchien rasselten. Er war blau angelaufen, nein, eher rötlich violett. Wie ich es mir vorgestellt hatte. Ich stand jetzt vor einer Gewissensfrage. Ich konnte ihn von der Last befreien. Ich war seine einzige Chance. Oder die attraktive Lady. Die konnte ihn auch noch befreien. Oder wer sonst ließ den Fahrstuhl immer wieder hochfahren? Keine Ahnung. Ich drückte auf E, trotz seines flehentlichen Blickes. Er hatte aufgegeben. Er wollte von der Last der Uhr befreit werden. Er wollte leben und noch lange Jahre kunstpfeifen. Ohne mich. Ich drückte auf E. Er fuhr wieder runter. Er kam wieder hoch. Er war zäh. Die Türen öffneten sich. Ein Bild des Jammers. Die Zunge hing ihm aus dem Mund, wie einem mit einem Bolzen getöteten Ochsen. Er atmete sehr schnell und sehr flach. Jetzt ganz blau im Gesicht. Seine Augen glotzten stier, waren weit aus den Augenhöhlen getreten, als drückte jemand sie ins Freie. Ein letzter Drücker, und sie baumelten an den Nervenfäden wie Weihnachtskugeln am Christbäumchen. Jetzt oder nie. Die nächste Tour würde er nicht überleben. Das war so sicher wie das Amen in der Kirche. Ich war kalt bis zum Herzen. Kein Erbarmen. Das Experiment hatte sich verselbstständigt. Ich wollte es zu Ende bringen. Ich drückte E. Die ganze Ladung fuhr wieder abwärts. Ich genoss die Vorstellung, dass dies seine letzte Fahrt sein würde. Mit einem ganz trockenen Halleluja im Herzen. Barockuhr, gebenedeit seist du. Ein allerletztes Quäntchen Luft. Das wars, Ströbele, ausgepfiffen! Ich schleckte an dieser Vorstellung wie an sehr kaltem, sehr köstlichem Eis. Er hatte meine Idylle zerstört. Ich zerstörte ihn. Er kam nicht wieder hoch. Ich ging die zehn Stockwerke zu Fuß hinunter.
    Als ich unten ankam, waren die Fahrstuhltüren geöffnet. Ströbele war tot. Er wirkte, mit der sehr schönen marmornen Barockuhr auf seinem Bauch und der seitlich aus dem Mund baumelnden Zunge wie eine moderne Plastik, die sich in den Spiegeln des Fahrstuhls wieder spiegelte. Er hielt die Uhr mit beiden Armen fest umschlungen. Seine weit herausgetretenen Augäpfel wirkten wie ihm zufällig ins Gesicht geklebt. Das Uhrenpendel ragte aus dem marmornen Uhrenkasten, als wollte die Spitze des Pendels Ströbele den letzten Weg weisen. Ein Kompass ins Ungewisse. Eine barocke Melancolia in modernen Zeiten im Fahrstuhl. Sehr fremd alles. Ich bedauerte es, keinen Fotoapparat dabei gehabt zu haben. Es wären gute Fotos von einer sehr originellen Installation geworden. Installation Kunstpfeifer im Fah r stuhl mit

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