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Berlin blutrot

Berlin blutrot

Titel: Berlin blutrot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: u.a. Sebastian Fitzek
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Art-Déco-Deckenlampen. Der Kunstpfeifer steuerte auf eine barocke, marmorne Standuhr zu. „Der Mechanismus ist defekt“, sagte der Kunstpfeifer. „Sie muss zum Uhrmacher. Wenn Sie mir helfen, die Uhr in den Fahrstuhl zu bringen? Schaffe ich alleine nicht.“ Mein Blick war auf einen großen, flachen Holzkasten gefallen aus Mahagoniholz. „Oh“, sagte er und öffnete den Kasten. Ich sah Pfeifen in der unterschiedlichsten Art. „Das sind Vogelpfeifen“, sagte er. „Die Kollektion ist komplett. Ich kann jedes Vogelpfeifen imitieren.“ Er nahm eine dunkelbraune, bauchige Holzpfeife mit drei Löchern. „Die Rohrdommel.“ Er blies in die Pfeife. „Ie-og ie-og“ klang es dumpf. Er setzte die Rohrdommelpfeife ab und legte sie zurück in den Kasten. „Mein Ehrgeiz ist es, naturechter pfeifen zu können als jede dieser Vogelpfeifen.“ Er reckte sich kerzengerade, sog Luft in seinen mächtigen Brustkasten, dieser schwoll mächtig an, er blähte die Backen, und ich hörte, wie es aus dem Kunstpfeifer „ie-og ie-og ie-og“ machte. Es klang in der Tat naturechter als auf der Pfeife. Die angestaute Luft entströmte Herrn Ströbele wieder. Sein Gesichtsausdruck war verklärt und entrückt. Der Neurologe hatte nach dem Räuspern auch diese Verklärtheit im Gesicht. Es musste an der Produktion von Geräuschen liegen, die diese Verklärtheit hervorrief. Ein Trommelfeuer von Vogelgepfeife und Gezwitscher prasselte urplötzlich auf mich nieder. Als befänden wir uns in einem mit Singvögeln übervölkerten Wald. Er intonierte immer im raschen Wechsel. Er blies in eine Vogelpfeife, dann pfiff er selbst. Naturgetreu. Dieser rasche Wechsel war enervierend, zumal der dicke Mann auf und nieder hopste. Sein dicker Bauch schwappte heftig.
    In mir tobte einzigartige Raserei. Die Zähne knirschten, der Zahnstaub verwehte im Sturm meiner zerberstenden Lungen, die Haut gefror und zersprang. So jedenfalls fühlte ich mich. Ich war erfüllt von unstillbarer Mordgier. Ihm an die Kehle! Fetzen! Er brach seine Vorstellung abrupt ab. Ich fühlte mich am Ende. „Jetzt wollen wir!“, rief Herr Ströbele. Wir wuchteten die Standuhr, die sehr schwer war, auf die Sackkarre und bugsierten sie bis zum Fahrstuhl. Dort stellten wir die Sackkarre ab. „Ich gehe rückwärts in den Fahrstuhl. Sie kommen mit der Sackkarre nach. Bis zu mir. Wir laden die Standuhr ab. Sie verlassen den Fahrstuhl mit der Sackkarre. Sie kommen zurück. Wir kippen dann die Standuhr in Ihre Richtung. Dabei gehen Sie rückwärts, bis die Standuhr gekippt ist und ich sie am Sockel greifen und heben kann. Sie stellen an Ihrem Ende den Barhocker unter die Uhr. Er steht neben dem Fahrstuhl.“ Wir machten es, wie er es gesagt hatte. Herr Ströbele ächzte, als er die Standuhr am Sockel zu packen bekam und sie bis über seinen Bauch hob. Ich hob das andere Ende hoch, das auch sehr schwer war, aber längst nicht so schwer wie der massive Sockel. Mit Mühe konnte ich den Barhocker mit einem Fuß unter die Uhr schieben. Ich quetschte mir dabei einen Daumen, den ich nicht rechtzeitig vom Hocker bekam. Die Last der Uhr riss mir beim Hochheben fast die Arme ab. Herr Ströbele schnaufte. „Jetzt drücken Sie schon. Vergessen Sie die Sackkarre nicht!!“ Ich drückte die E, die Türen schlossen sich gerade eben so. Es handelte sich um wenige Millimeter. Die Standuhr hätte nicht länger sein dürfen. Langsam glitt der Fahrstuhl mit seiner Last abwärts. Er gelangte an bei E. „Warum machst du das?“, rief ich laut. Ich wollte mir den zweiten Fahrstuhl holen, als ich sah, dass der von Ströbele schon wieder nach oben kam. „Viel zu schnell“, dachte ich. „Er kann die Uhr noch
    nicht aus dem Fahrstuhl geschoben haben.“
    Ströbeles Fahrstuhl kam wieder im zehnten Stock an, und die Türen öffneten sich. Das Bild war unverändert. Ströbele hielt die Standuhr. Knapp über dem Bauch. Er hatte einen ziemlich angestrengten Zug um den Mund und keuchte.
    „Drücken Sie schon“, japste er. „Beeilen Sie sich!“ Ich drückte wieder E. Die Türen schlossen sich und der Fahrstuhl bewegte sich wieder abwärts. Ich wartete. Und tatsächlich: Kurz, nachdem der Fahrstuhl auf E angekommen war, fuhr er wieder hoch. Das gleiche Spiel. Die Türen öffneten sich. Ströbele wirkte jetzt sehr verkrampft. Die Uhr war ja auch sehr schwer. Sie so knapp über dem Bauch halten zu müssen, war ein echtes Stück harte Arbeit. Wenn er die Uhr los ließe, würde sie auf seinem dicken Bauch hängen

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