Berlin blutrot
wiege 162 Kilo und bin der Kunstpfeifer von neben an. Ich wollte mich vorstellen.“ Ohne jede Aufforderung betrat der mächtige Mann mein Penthouse, ging bis in den Salon, trotz seiner Fülle mit seltsam tänzelnden Schritten, posierte sich vor dem Kamin und breitete die Arme aus. Er schloss die Augen, sein Mund spitzte sich zu und ein gepfiffener Triller schwebte durch den Raum. Meine Bronchien verengten sich augenblicklich. Ich bekam Atemnot. Der Triller brach ab. „Das war die chinesische Nachtigall bei Mondschein“, sagte der Kunstpfeifer. Dann keckerte es heftig. Mein Herz rumpelte. Rhythmusstörungen. „Die diebische Elster“, kommentierte
der ungebetene Kunstpfeifer. Er lächelte mich Beifall heischend an. Mir war nicht nach Beifall zumute. Mein Gesicht zuckte, als wollte es zerspringen. Ich rang mühsam nach Luft. „Kunst ist antizivilisatorisch. Kunst sprengt bürgerliche Fesseln. Kunst ist Hingabe. Kunst ist Widerstand. Kunst ist radikal. Ich nenne es das Prinzip Wildpferde zureiten. Jedes Wildpferd gibt mal auf. Dann ist es kunstbereit. Dressur auf höchstem Niveau. Voller Hingabe. Dann strömt die Kunst. Dann lauschen sie. Dann ist das Publikum ergriffen. Kunst ist Vollendung!“ Ich wollte nicht vollendet werden. Ich wollte, dass er sofort wieder ging. Ich fühlte mich plötzlich wieder sehr fremd in mir. Ich blieb ein von Geräuschen aus der Welt Vertriebener. Dieser voluminöse Kunstpfeifer vor mir war das Ende meines Weges. Mein Penthouse war ein Traum, den er zu zerstören im Begriff war. Die Wirklichkeit hatte mich wieder eingeholt. Ich selbst wog magere 68 Kilo bei einer Körpergröße von 187 Zentimetern. „Leiden Sie an Magersucht?“ wurde ich hin und wieder gefragt, „Ist das nicht mehr ein Frauenleiden?“ Was sollte ich da antworten? Ich konnte so viel essen, wie ich wollte, ich nahm nicht zu. Es gab nichts Fremderes als diesen Kontrast: Der dicke Kunstpfeifer, und ich, ein Skelett. Zwei Freaks, die sich unvereinbar gegenüberstanden. Zwei Extreme berührten sich. Er oder ich. Fehler gegen Fehler. Einer von uns beiden war ein Fehler zu viel. Ein Fehler musste getilgt werden. Kampf auf Leben und Tod. Ich hatte Mordgedanken. Ich sah für mich aber keine Chance gegen die physische Übermacht dieses Mannes.
Er ging wieder, ohne erneut zu pfeifen. Ich hätte es nicht überlebt. „Auf gute Nachbarschaft!“ rief er noch. Dann war er weg. Ich begab mich sofort in meine Glaskuppel, den Ort absoluter Ruhe, und setzte mich. Es war später Nachmittag. Die Sonne schien noch kräftig. Sie versank dann in der Abenddämmerung glutrot. Dann Dunkelheit. Dann, endlich, vollkommene Stille. Nur der Marmorjüngling mit der silbrig schimmernden Wasserhaut im Licht der Scheinwerfer war zu sehen. Allmählich kehrte Ruhe in mich zurück. Das Pfeifen des Kunstpfeifers klang noch eine ganze Weile in mir nach. Ehe es ganz aufhörte. Ich fürchtete schon, Tinnitus im Ohr zu haben. Der programmierte Wahnsinn. Hoffentlich war der Kunstpfeifer am nächsten Morgen wieder weg. Er musste doch pfeifend die ganze Welt beglücken. Er war nur eine vorübergehende Erscheinung gewesen. Eine Phantasmagorie. Ich saß die ganze Nacht in der Glaskuppel wie ein verschreckter Hase in seinem Bau.
Die Sonne stieg auf. Nebelschwaden zerstoben. Die Luft glasklar. Blauer Himmel wölbte sich über Berlin. Bald würde der Servicedienst das Frühstück bringen. Frische, duftende Croissants, Honig, Butter, Baguette mit Schinken und Salatblättern belegt. Ich hatte mich wieder beruhigt. Tief atmete ich ein. Ich trat in die Morgenfrische an die Brüstung der Terrasse und genoss den Blick über den Tiergarten, die Spree, die Siegessäule, in der Ferne das Brandenburger Tor. Geschichte atmete mich an. Es schellte. Wer war das? Ich eilte zur Türe und öffnete. Es war der Kunstpfeifer. Ich bekam Gänsehaut. „Würden Sie mir wohl
helfen?“, sagte er. Kein „Guten Morgen“, nichts von alledem. Er wand sich um und stapfte in sein Penthouse. Am liebsten hätte ich ihm die Türe vor der Nase zugeworfen. Da war er aber schon ein paar Schritte weg. Ich wollte nicht unhöflich sein. Ich wollte auch das Zuknallen der Türe vermeiden. Ich folgte ihm. Er hieß Ströbele, wie ich auf dem Klingelschild lesen konnte. ‚Konzertanter Kunstpfeifer‘.
Sein Penthouse war im Schnitt identisch mit meinem. Es war sehr spärlich, aber geschmackvoll mit modernen Möbeln eingerichtet. Italienisches Design. Eine weinrote Sitzlandschaft aus Leder. Herrliche
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