Berlin - ein Heimatbuch
frühen Abend ist es immer noch ziemlich warm. Mit Blick auf die unaufhörlich anschwellende Masse der Badefreudigen, die einem langsam, aber sicher den Platz zum atmen nimmt, schwenkt Karl die weiße Fahne:
»Du, das läuft hier bald über, vielleicht sollten wir mal abhauen.«
»Wie du meinst. Vielleicht kann man ja hier in der Nähe noch ein bisschen abchillen.«
Karl schaut mich an, als hätte mein Sprachmodus urplötzlich ins Chinesische gewechselt. Kaum zu glauben, wie provinziell und unmodern der Kerl im Grunde ist.
»Ich meine, wir könnten noch irgendwo bei einem gepflegten Kaltgetränk entspannen, bevor wir zurückfahren.«
Karl nickt leicht beschämt. Wir ziehen uns um und laufen zurück Richtung U-Bahn.
Auf der Schlesischen Straße steuern wir das Mysliwska an und ergattern einen der begehrten Tische im Freien. Karl bestellt ein polnisches Bier vom Fass – so was gibt es hier tatsächlich.
Ich nehme eine Fassbrause. Janz der Balina Junge.
Karl prostet mir zu und hält dann mitten in der Bewegung inne. Sein Blick folgt wie hypnotisiert einem kleinen Mann, der gerade mit Trippelschritten beschwingt auf die andere Straßenseite wechselt.
»Was ist los, siehst du jetzt Gespenster?«
»War das nicht – wie heißt der noch?«
»Wieder jemand aus deinem obskuren Yogakurs, nehme ich an?«, stichele ich, während ich mich mit Schaudern an die genauso schöne wie freche Britta erinnere.
»Nein, nein«, wehrt Karl entrüstet ab, »war das nicht dieser Linken-Politiker?«
»Gregor Gysi meinst du? Na, ich weiß nicht. Nicht jeder vertikal Benachteiligte muss automatisch ein Gysi sein«, kontere ich seine vage Vermutung mit Logik.
»Doch, das war er. Ganz sicher. Unglaublich! Dass man den hier sieht, einfach so auf der Straße.«
»Vielleicht ist das noch nicht bis zu deinen Reiseführer-Autoren durchgedrungen, aber Berlin ist seit einiger Zeit Bundeshauptstadt. Hier begegnet man vielen Politikern. Und falls dir das bislang nicht aufgefallen sein sollte: In Berlin ist gefühlt jeder Dritte Einwohner ein Promi.«
»Ist das so?« Karl wirkt skeptisch.
»Na klar. Oder kennst du eine andere Stadt, die jedes Jahr per Szenemagazin ihre 100 peinlichsten Berühmtheiten an den Pranger stellt? Andere Städte wären froh, wenn sie überhaupt 100 Promis zusammenbekämen und würden sich hüten, die auch noch zu bashen.«
»Bashen« hat der Sonderpädagoge vermutlich wieder nicht verstanden. Trotzdem sieht man förmlich, wie es in Karls Hirn anfängt zu rattern. Offenbar versucht er, sämtliche in Heilbronn und Böblingen wohnhaften Prominenten zusammenzurechnen. Das Ergebnis scheint ihn nicht zu befriedigen, denn völlig aus dem Nichts heraus beginnt er zu poltern: »Du machst hier einen auf Weltstädter, was? Dann pass mal auf, du Angeber. Ich bin mir sicher, dass du nicht mehr als fünf Persönlichkeiten nennen kannst, die in Berlin gelebt haben und wirklich berühmt geworden sind.«
Ich stutze kurz. Und werde dann richtiggehend wütend.
»So etwas Eingebildetes wie dich gibt es kein zweites Mal. Jetzt sperr mal die Lauscher auf, du Nuss: Nina Hagen, Peter Fox, Kurt Krömer, Bushido, Rolf Eden. Das sind fünf, oder? Alle bundesweit bekannt. Und damit das halbe Dutzend voll wird, packe ich noch Murat Topal obendrauf. Zufrieden?«
Karls Blick ist an Überheblichkeit kaum zu toppen. »Na, berühmt mögen die von mir aus sein. Wobei ich nicht weiß, wer oder was ein Bushido sein soll. Aber diese Leute sind doch eher der Halb- und Glitzerwelt zuzurechnen und mit Sicherheit keine Persönlichkeiten. Ich rede von Hochkarätern wie Zille, Kollwitz, Schinkel, Humboldt, Brecht.«
»Verstehe. Bei dir muss ein Prominenter mindestens 50 Jahre tot sein, damit er im Humus zur Persönlichkeit reifen kann. Entschuldige bitte, aber ich glaube, du bist ein klein wenig nekrophil. Ich bring dich die Tage mal zum Dorotheenstädtischen Friedhof, da kannst du all deinen Persönlichkeiten beim Reifen zusehen. Hoffentlich erregt dich das nicht gar zu sehr.«
Noch in dem Moment, als ich den letzten Satz ausspreche, weiß ich, ich bin zu weit gegangen.
Karl-Holger sieht entsprechend geschockt aus. Hoffentlich habe ich mit meiner Vermutung nicht wirklich ins Schwarze getroffen. Man weiß ja nie.
Ich rudere kräftig zurück und versuche, wieder auf gut Freund zu machen.
»Tut mir leid, das war nicht so gemeint. Sollte ein etwas missglückter Witz sein. Pass auf, wir machen jetzt ein kleines Quiz. Ich gebe dir ein paar Stichworte
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