Berlin - ein Heimatbuch
Open-Stage-Varieté. Wöchentlich wechselnde Moderatoren kündigen hier gestandene Profis ebenso wie absolute Newcomer an, die gleichberechtigt vor einem maximal 56 Personen starken Publikum ihre Nummern darbieten. In der Scheinbar starteten Bühnengrößen wie Mario Barth, Kurt Krömer, Meret Becker und Eckart von Hirschhausen ihre erfolgreiche Karriere. Auch ich habe während meiner Polizeizeit hier meine allerersten, noch recht unfertigen Stand-up-Nummern ausprobiert. Sogar Ute Lemper ist hier schon mal hereingeschneit – allerdings als Besucherin, nicht als Bühnenstar.
Die Eintrittspreise variieren zwischen 7 und 12 Euro.
Scheinbar Varieté
Monumentenstraße 9, 10829 Berlin-Schöneberg, Tel.: 030 / 784 55 39, www.scheinbar.de
Käpt’n, lass die Leinen dran
Der kommende Tag beginnt sehr gemütlich. Karl hat es mit einem Mal nicht mehr eilig, denn seine tatkräftig erbeuteten Bücher nehmen ihn voll in Beschlag. Erst gegen zehn lässt er sich in der Küche blicken, das Humboldt-Buch liebevoll unter den Arm geklemmt. Als ich den zärtlichen Gesichtsausdruck sehe, mit dem er den Raum betritt, ist er mir fast schon sympathisch. Geradezu großartig ist außerdem, dass ich die zwei Stunden einsamer Küchenmeditation für erste ungestörte Arbeiten an meinem Programm nutzen konnte. Ich kann es selbst kaum fassen, aber unser Taxi-Maniac von gestern war eine echte Inspiration und locker für eine Nummer gut.
»Karl, Kaffee?«
Ich bin ungewohnt karlfreundlich, ernte aber nur schwäbisches Schweigen und Seitenblättern.
»Haallooooo. Möchte der Herr vielleicht einen Kaffee?«
Überraschenderweise schaut der etwas unsanft Angesprochene tatsächlich, wenn auch nur kurz hoch.
»Sprichst du mit mir?«
Ich kontere mit ein wenig Sarkasmus.
»Lieber Karl, in Anbetracht der eingeschränkten Anzahl in der aktuellen Raum-Zeit-Konstellation anwesenden Personen liegt deine Vermutung absolut im Bereich des Wahrscheinlichen.«
»Ho, ho, hört hört. Ja.«
»Was ›Ja‹?«
»Ich sage ›Ja‹ zu Kaffee.«
Also schenke ich ihm ein. Da auch nach fünf weiteren Minuten keine Wortmeldung von ihm erfolgt, fange ich an, mir Sorgen zu machen. Erschreckend, wie das Gewohnheitstier Mensch sich selbst an die unangenehmsten Umstände anpasst und diese bei Ausbleiben nahezu vermisst.
»Sir. Es ist inzwischen fast halb elf. Ich erwarte dringend Ihre Einsatzpläne.« Streng mustere ich unseren pflichtvergessenen Gast. Er schaut nur träge zurück. Schockierend!
»Kollege, du schwächelst doch jetzt nicht etwa?«
Karl seufzt, blickt kurz aus dem Fenster, dann leicht schuldbewusst in meine Augen.
»Murat, versteh mich nicht falsch, aber ich habe gerade ein bisschen die Nase voll vom Stadterkunden ... ich meine, ich brauch mal ein wenig Ruhe.«
Mein Herz macht einen meterhohen Sprung. Trotzdem versuche ich höflicherweise die Contenance zu bewahren.
»Okay, okay, Karl, kein Thema.«
In mir keimt das zarte Pflänzchen Hoffnung. Den Dorfliteraten hat der Großstadtkoller erwischt.
Hat er womöglich schon seinen Schrankkoffer gepackt?
»Also, Murat. Nicht böse sein, aber ich hätte gern einen halben Tag Pause. Okay?«
Waaas? Nur einen halben Tag? Mein sensibles Pflänzchen bekommt seine erste heftige Lebenskrise.
»Danach können wir gerne wieder was unternehmen.«
Das zarte Pflänzchen stirbt einen vorzeitigen, aber höchst grausamen Tod.
In völliger Verkennung der Sachlage schaut mich Karl mitfühlend an.
»Wäre das ausnahmsweise in Ordnung für dich, Murat?«
Mit einem unkontrolliert heftigen Knall böllere ich den gerade erst aus dem Küchenschrank geholten Teepott extrem zu laut in die Spüle. Mannomann, das ist eindeutig zu viel. Ich muss hier unbedingt weg.
»Du, Karl, pass auf, ich vergaß. Ich muss dringend ein paar Sachen erledigen. Das mit der Brieftasche, du weißt ...«
»Klar, du solltest deswegen unbedingt zur Polizei.«
»Ja sicher«, sage ich abwesend.
»Nein im Ernst, das solltest du nicht auf die leichte Schulter nehmen; hier in der Nähe gibt es sicher eine Wache ...«
»Ich weiß sehr gut, wo hier die Polizei ist, okay?«
Kann einem ein einzelner Mensch tatsächlich derart auf den Zeiger gehen? Ich werde einen Dreck tun und meine peinliche Loser-Geschichte einem ehemaligen Kollegen brandheiß in den Computer diktieren. Wer weiß schon, ob ich nicht eines fernen Tages mein Hoppelpoppel doch wieder in Uniform verdienen muss und mich mit einer derartigen Lachnummer für alle Zeiten unmöglich
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