Berlin Gothic 5: Nachts Bei Max
plötzlich wie Schuppen von den Augen: Wir sind nicht nur nicht frei in der Entscheidung, ob wir einen Sinn konstruieren wollen oder nicht - wir sind auch nicht frei in der Entscheidung, welchen Sinn wir konstruieren wollen!“
Henning wirkte wie jemand, der fast ein wenig erleichtert war, dass er diesen wichtigen Punkt in seiner Erörterung erreicht hatte.
Till hingegen hatte das Gefühl, sich unbedingt dagegen wehren zu müssen. „Ach nein? Wir sind nicht frei in der Entscheidung, welchen Sinn wir konstruieren wollen? Wieso denn nicht? Ich kann doch frei wählen, ob ich nun dieser oder jener wissenschaftlichen Theorie anhänge, dieser oder jener Religion!“
„Bist du dir da wirklich so sicher? Ist es nicht vielmehr so, dass du von einer Religion oder Theorie überzeugt bist, dich womöglich später von einer Alternative überzeugen lässt, und dann dieser Alternative treu bist? Wäre es nicht willkürlich , wenn du sagen würdest, ich glaube daran - könnte aber genauso gut auch an etwas anderes glauben?“
„Sicher, das wäre willkürlich, aber in der Phase, in der ich mir eine Meinung bilde, bin ich doch frei, ich kann so oder anders wählen.“
„Das scheint dir, aber du bist es nicht wirklich.“
„Woher wollt ihr das wissen!“ Till war nicht überzeugt. „Sinnsucher - sicher - das mag alles stimmen, höchstwahrscheinlich sogar. Aber das ändert doch nichts daran, dass ich mich frei fühle - solange ich nicht in Ketten liege! Frei in der Möglichkeit, jetzt den Raum zu verlassen - frei im Kopf, so dass ich zum Beispiel wählen kann, ob ich mich von dir überzeugen lasse oder nicht!“
„Du FÜHLST dich frei, das bestreite ich ja gar nicht. In dem Moment aber, in dem du dich für etwas entscheidest, zum Beispiel, dich von mir nicht überzeugen zu lassen, gibt es doch dafür einen Grund. Und genau dieser Grund ist die Ursache für deine Entscheidung. Bei meinen Argumenten und deinen Überzeugungen zum Beispiel halte ich es für festgelegt, dass du dich erst einmal eben nicht überzeugen lässt. Du kannst nicht anders, als dich nicht überzeugen lassen. Mit einem Wort: Du kannst nicht anders, als etwas aus einem bestimmten Grund tun - es sei denn, du würdest es ausdrücklich OHNE Grund tun. Dann aber würde genau das der Grund deines Tuns sein: Dass du etwas ohne Grund tun wolltest.“
„Die Sinnsuche ist der Grund, weshalb ich glaube, frei zu sein.“ Es war, als würde Till der Gedanke plötzlich von innen heraus durchfluten.
Henning nickte langsam. „Dieser Glaube ist die falsche Antwort auf die Sinnsuche, genau.“
„Und was ist die richtige?“
Henning richtete sich auf. Der leichte Schlag, den er Till über den Schreibtisch hinweg gegen die Schulter versetzte, traf Till so unerwartet, dass er regelrecht zusammenzuckte.
„Ich muss jetzt wirklich los, Till.“ Zügigen Schritts ging Henning zur Tür, wandte sich auf der Schwelle aber noch einmal um. „Du hast mich gefragt, was der Zusammenhang zwischen dem fiktiven Universum und dem Durchschauen der Freiheitsillusion ist - oder?“
Till nickte.
„Mit dem fiktiven Universum werden wir den Menschen die richtige Antwort für ihre Sinnsuche geben!“ Er lächelte. „Wir werden sie dem Sinn der Geschichte nachspüren lassen und ihnen den Sinn ihres Lebens, den Sinn ihrer Existenz dabei entbergen. Indem sie den Schienen der Autoren folgen, begreifst du?“
Till fühlte sein Herz in seiner Brust stampfen.
Es war gefährlich!
Der Gedanke durchzog sein Hirn, als würde er es dabei verbrennen: Was Henning, Felix und die anderen hier machten, war gefährlich .
BERLIN GOTHIC 5
Zweiter Teil
1
Heute
Der Mann kauert neben der Wand, die Arme über den Kopf gerissen, die Ellbogen herausstehend, das Gesicht nach unten gedreht. Er zittert am ganzen Körper.
Frederik ist herumgefahren wie eine Sprungfeder, hat Claire für einen Moment vollkommen entblößt. Den Rücken durchgebogen, die Arme wie zwei überdimensionale Zangen nach vorn gewölbt, stellt er sich der Gestalt entgegen, die hinter seinem Rücken plötzlich aufgetaucht ist.
„WAS“, donnert Frederiks Stimme durch den Gang, „WILLST DU!“
Claire sieht, wie der Mann zusammenschaudert, als würde Frederiks Wut ihn förmlich gegen die Wand schleudern. Sie bedeckt sich und rollt sich zusammen.
Da trifft Frederiks Faust den Mann, der Körper des anderen faltet sich in einer hilflosen Geste der Abwehr, des Schutzsuchens, des Aufgebens zusammen und er
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