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Berlin Gothic 5: Nachts Bei Max

Berlin Gothic 5: Nachts Bei Max

Titel: Berlin Gothic 5: Nachts Bei Max Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonas Winner
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dass er der Täter ist, weil alles in seine Richtung zeigt, aber am Ende ist der Täter doch ein anderer, stimmt‘s? Das klappt allerdings nicht immer: Wenn allzu viele Hinweise auf diesen einen Verdächtigen deuten, weiß man als erfahrener Leser gleich: Der Autor will, dass ich glaube , das ist der Täter - also ist er es genau NICHT! Weil der Autor mich ja am Ende noch überraschen muss.“
    „So ist es.“ Henning lächelte. „Und dieses Schema funktioniert deshalb, weil wir Menschen … wie wir sagen … eine Art Sinnsucher sind.“
    „Aha.“
    „Das ist jetzt alles vielleicht ein bisschen viel auf einmal, aber du wolltest es ja unbedingt wissen.“
    „Was soll das sein: Sinnsucher?“
    „Im Film funktioniert es genauso wie im Buch.“ Henning legte die Hände auf seine angewinkelten Beine. „Wenn wir eine Geschichte, einen Krimi verfolgen, genügen die kleinsten Details, um uns misstrauisch zu machen. Der düstere Blick eines Verdächtigen, eine Handbewegung, von der wir nicht wissen, warum er sie macht - schon erwacht unser Spürsinn und wir interpretieren diese Details. Und zwar so, dass sie einen Sinn ergeben. Daran können wir überhaupt nichts ändern! Wir verfolgen alle Elemente der Geschichte und konstruieren zu jedem Zeitpunkt eine Theorie dessen, was geschehen ist. Wobei in dieser Theorie möglichst viele Details eine sinnvolle Rolle spielen müssen. Wenn der Autor uns also auf eine Blindspur locken will, gibt er uns sozusagen mehr Details an die Hand, die Sinn machen, wenn der falsche Verdächtige der Täter wäre, als Details, die Sinn machen, wenn der zurecht Verdächtigte der Täter ist. Deshalb halten wir den Falschen dann auch für den Täter - kurz: Wir fallen auf die Blindspur herein. Kannst du mir folgen?“
    Till nickte.
    „Diesen Prozess, dass wir als Leser oder Zuschauer eine Theorie konstruieren, können wir gar nicht groß beeinflussen, das findet einfach statt. Sozusagen in unserem Kopf - ohne unser Zutun. Und diese automatische Sinnsuche ist das, womit ein guter Krimiautor spielt. Wenn man, wie du sagst, schon ein paar Krimis kennt, ist man sensibilisiert und wird argwöhnisch, kaum dass zu viele Indizien auf einen bestimmten Verdächtigen als Täter hindeuten. So könnte ein geschickter Autor zum Beispiel dafür sorgen, dass viele Indizien auf den wahren Täter zeigen, damit wir denken: Der Autor will , dass wir glauben, der sei’s - also ist der’s gerade NICHT. In Wahrheit aber ist eben doch genau diese Figur der Täter. So schafft sich der Autor eine Möglichkeit, uns noch einmal zu überraschen, wenn er uns entbirgt, dass dieser Verdächtige, den wir als Täter schon ausgeschlossen hatten, eben doch der Täter ist! Das kann man natürlich beliebig verfeinern, das war jetzt nur ein Beispiel. Worum es mir geht“, fuhr Henning etwas lauter fort, als Till ihn unterbrechen wollte, „ist, dass diese Interpretation der Hinweise, dieser Versuch, einen Sinn zu konstruieren in dem, was wir von der Geschichte bereits erfahren haben, etwas ist, wozu wir in gewisser Weise - wie ich vorhin schon gesagt habe - als Menschen und Leser praktisch verdammt sind. Wir können gar nicht anders. “
    „Wir können gar nicht anders.“
    „Genau. Was so viel heißt, wie: Wir sind in diesem Punkt nicht frei.“
    „Okay, aber - “
    „Moment, lass mich ausreden. Das ist ja nicht nur so, wenn wir einen Krimi lesen. Wir sind in allen Lebensbereichen, in allen Situationen und Momenten immer auf diese Sinnsuche, diese Sinnkonstruktion festgelegt. Nimm unsere Vorstellung von der Welt, in der wir leben. Was wissen wir von der Entstehung und Entwicklung unseres Universums? Es ist doch nichts anderes als eine sinnvolle Geschichte , die wir, also die Wissenschaftler, in den letzten Jahrhunderten und Jahrtausenden konstruiert haben: Es gibt einen Anfang, das nennt sich dann Urknall. Und es gibt eine Geschichte, die sich im Ausgang von diesem Anfang entwickelt hat. Nichts anderes findest du zum Beispiel am anderen Ende des Spektrums, in der Religion. Das wird dir jeder, der sich damit ein wenig auskennt, bestätigen: Religionen sind im Wesentlichen Geschichten. Denk an die Bibel, an den Schöpfergott, an die Geschichten von seinem Sohn … Auch darüber lässt sich natürlich endlos diskutieren. Wesentlich für das, worüber wir gerade sprechen, ist aber nur eins: Wir sind dazu verdammt, einen Sinn zu konstruieren - ob wir wollen oder nicht. Und wenn man das erstmal begriffen hat, fällt es einem

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