Berlin Gothic 5: Nachts Bei Max
ab.
„Felix erwischt man so gut wie nie, und wenn ich Henning etwas sage … wer weiß, was er Felix dann weitererzählt“, stammelte Malte.
„Die Frau hat sich mit ihrem Sohn dort unten versteckt, ja?“ Till war mit den Gedanken noch immer beim Text. „Oder ist es genau anders herum?“
„Wie anders herum?“
„Hat sie den Jungen entführt und ihm nur eingeredet , dass draußen all die Monster auf sie warten?“
Malte sah Till beinahe mit einem Ausdruck des Ekels an. „Warum sollte sie das denn tun?“
„Weil sie es genießt, von ihrem Sohn verspeist zu werden?“
Malte wirkte, als würde sich sein Magen umdrehen. „Und warum sollte ihr Sohn sich von ihr einreden lassen, dass sie sich dort verstecken müssen?“
„Kann eine Mutter einem Jungen das nicht einreden? Wie alt ist er denn? Dass sie verfolgt werden, ihr Leben auf dem Spiel steht - während in Wahrheit das Getrappel über ihren Köpfen, an der Decke, nichts anderes ist als das Geräusch, das ganz normale Fahrgäste machen, wenn sie von einem U-Bahnhof zum anderen laufen!“ Till beugte sich wieder zum Bildschirm, griff über Maltes Schulter hinweg nach der Maus und scrollte den Text etwas nach unten.
„‘Was ist das?‘, schrie Jakob und seine Stimme überschlug sich beinahe.“ Tills Blick hakte ein und er las weiter. „‘Der Verband - es blutet ja!‘
Cora konnte sich von ihrem Bett nicht mehr aufrichten.
Es war, als würde ihr Bein in Flammen stehen. Als würde der Teil ihres Gehirns, der mit ihrer Wade verbunden war, lichterloh brennen. Als würde der Schmerz wie eine riesige, endlose Welle gegen die zerbrechliche Bretterwand anrollen, die ihr Ich noch vor ihm schützte - die ihr Ich noch von dem Wahnsinn trennte, in den es stürzen würde, wenn die Schmerzwellen es unter sich begruben.
‚Hast du … ‘, der Glanz in Jakobs Augen wirkte plötzlich wie beschlagen, ‚ … hast du es aus dir herausgeschnitten? ‘ Er musste husten, schlug sich mit der geballten Faust auf die Brust, um den Reiz zu unterdrücken. ‚Was machen sie mit uns, Mama?! Wenn wir rausgehen - was tun sie uns an? ‘
‚Du weißt es, Jakob, ich hab es dir oft genug gesagt.‘
‚Sie beißen uns, ist es das?‘
Triddeldriddeldiddeltrapptriddeldriddeldiddeltrapptriddeldriddeldiddeltrapptriddeldriddeldiddeltrapp …
‚Sie verbeißen sich in uns, sie reißen mit bloßem Maul Stücke aus uns heraus - ‘ Cora ließ sich auf den Rücken sinken. Sie würde es Jakob noch besser erklären - er würde sie schon verstehen, er brauchte nur etwas Zeit. Sie würde nicht zulassen, dass er es nicht schaffte.
‚Ist das nicht, was du machst, Mama? Fleisch aus dem lebendigen Leib herausreißen? Bist du die Infizierte?!‘
Ein plötzlicher, metallischer Geschmack in ihrem Mund hinderte Cora daran, ihm sofort zu antworten. Sie beugte sich zur Seite und spuckte aus. Das Blut, das aus ihrem Mund spritzte, zog Fäden. Als sie den Blick wieder hob, sah sie, dass Jakob den Balken, den sie vor die Tür gelegt hatte, gerade nach oben schlug.
Triddeldriddeldiddeltrapptriddeldriddeldiddeltrapp!
‚Hier‘, schrie er, ‚HIER! Sie ist hier. Wir sind hier.‘
Das Trappeln über ihnen schien plötzlich still zu stehen.
Cora wollte sich aufrichten, wollte ihn aufhalten, wollte ihn bei sich behalten. Aber Jakob achtete nicht auf ihre Rufe. Schon riss er den Balken, den er gerade gelöst hatte, vom Boden wieder hoch und rammte ihn mit aller Kraft gegen die Tür -
die im gleichen Augenblick mit roher Gewalt von außen nach innen gedrückt wurde und splitternd zerbarst.
Coras Augen gingen über. Eine Masse gleichsam verwucherter Leiber ergoss sich in das Loch, in dem sie seit drei Wochen ausharrten.“
Till starrte auf den Bildschirm. Malte war aufgestanden, hatte sich ans Fenster gestellt und es geöffnet. Der nächtliche Straßenlärm drang zu ihnen herein. Als er sich zu Till umwandte, schienen seine Augen noch ein wenig tiefer in die Höhlen gesunken zu sein.
„Diese Geschichte … sie lässt dich nicht mehr los“, flüsterte er. „Je tiefer du in das Universum eindringst, desto mehr hält es dich fest.“
„Und du glaubst das“, fragte Till vorsichtig, „das, was Felix sagt? Dass wir uns nur einbilden , frei zu sein? Dass du gar nicht anders kannst, als das hier zu lesen?“
Maltes Gesicht bebte. „Ja … ja, das glaube ich.“
„Du glaubst, dass diese Geschichte von Cora hier genauso viel wert ist, wie jede andere Geschichte - weil alles nichts wert ist! Weil
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