Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Berlin liegt im Osten (German Edition)

Berlin liegt im Osten (German Edition)

Titel: Berlin liegt im Osten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nellja Veremej
Vom Netzwerk:
kleinen Fischerhocker, daneben ein Eimer mit gerösteten schwarzen Sonnenblumenkernen. Für fünf Kopeken schöpfte sie mit einem Schnapsglas rasselnde Kerne und schüttete sie in eine Tüte aus Zeitungspapier. Ihre Hände waren knotige Baumwurzeln, ihr Gesicht eine Morchel. Die Frau hatte nur wenige Zähne, mit denen sie es dennoch schaffte, die Kerne schnell und geschickt zu schälen, und um ihren eingefallenen Mund wimmelte immer ein Bart aus feuchten Schalen.
    Im Zentrum der Stadt konnte man auch Eis essen. Wir fuhren sechs Stationen mit der Tram, Hand in Hand mit meiner aufgeputzten Mutter. Der Vater war nicht besonders groß, und nach seinem Tod konnte sie endlich eine hohe, turmähnliche Frisur und hohe Absätze tragen. Gelegentlich hob sie ihren Fuß, wie es ein Pferd beim Beschlagen tut, und schaute nach, ob ihre dünnen Pfennigabsätze noch heil waren. Da wir am Stadtrand wohnten, nicht weit vom Fleischkombinat, waren die Ausflüge zu den paradiesischen Brunnen immer etwas Besonderes.
    Unseren U-förmigen Hof bildeten drei einstöckige Mietskasernen. Gebaut gleich nach dem letzten Krieg, wucherten die Häuser allmählich nach außen, mit plumpen Terrassen, aufgesetzten Dachböden und verglasten Veranden und ähnelten so einer Termitenkolonie. Ein riesiger Walnussbaum mitten im Hof beschattete ein für den Kaukasus typisches Tohuwabohu der Menschen, die gerne draußen im sonnengetupften Schatten verweilten. An einem hellen Tag schienen die Zimmer hinter den geöffneten Fenstern immer tintendunkel zu sein – da saßen unsichtbare Hausgötzen, Idole und Totems eingekerkert, die aus dem öffentlichen Leben in karge private Gemächer vertrieben worden waren.
    Die Sonne des Imperiums stand im Zenit. Der futuristische Staat lebte in seinem eigenen Zeitalter, nach eigenem, neu erschaffenem heidnischen Kalender, gesegnet vom eigenen atheistischen Pantheon – so glaubte das Ostimperium, seine bunten Völker unter einen gemeinsamen Nenner bringen zu können. Und es erreichte dabei viel: Auf einem Sechstel der Erdoberfläche beerdigten Menschen ihre Toten unter dem roten Stern, die Bürger gingen am 22. April, an Lenins Geburtstag, mit Besen und Schaufeln auf die Straßen und am 1. Mai mit Plakaten und Luftballons.
    Am Silvesterabend wurden vom weißrussischen Brest bis ins fernöstliche Kamtschatka Gemüse und Fleischwurst für den Salat
Olivje
geschnitten, und um Mitternacht erstarrten die Bürger des Imperiums bei einem Glas Sowjetchampagner ehrfurchtsvoll vor den Schlägen der Kremlturmuhr. Das vorfestliche Fieber kündigte sich mit akkuraten Apfelsinenpyramiden in Schaufenstern an und zog sich durch den ganzen Dezember. Sonst kaum zu bekommende Leckereien erschienen plötzlich und unerwartet in den Regalen, frohe Botschaften flogen durch die Stadt und beflügelten die geschickten Wurst-Jäger. Ihr unter den Schapkas plattgedrücktes Haar war feucht von Schweiß; Matsch eroberte die Granitböden der Gastronomieläden und drang durch das schlechte Schuhwerk bis zu den Knöcheln der Könige mit ihren Gaben, die in löchrigen Netzen baumelten: Käse, Kaviar, Hering und Salami.
    Der 26. Dezember, mein Geburtstag, fiel mitten in das glückliche Getümmel, gesegnet durch die Vorfreude auf das Neujahrsfest. Hier in Deutschland beschäftigt man sich in dieser Zeit mit dem Ausklang der Feierlichkeiten, die Stadt ist eine öde vermüllte Brache, wie wenn gerade ein Zirkus abgezogen wäre. Die festlichen Vorräte sind schon aufgebraucht, die Geschäfte sind immer noch zu, und so soll ich meinen Geburtstag feiern.
    Ich werde in den Supermarkt am Bahnhof Zoo fahren, der rund um die Uhr geöffnet ist. Im Treppenhaus flattern bunte Papierfetzen, und es schlängeln sich Geschenkbänder, draußen ist kein Mensch zu sehen. An der großen schwarzen Mülltonne hängt ein angeknabbertes hartes Herz:
Starte mit mir ins Glück
. Um die Tonne herum liegen schon einige Tannenbäume mit abgeborkten Zweigen, es sieht aus, als hätte ein Meteorit in die Taiga eingeschlagen. Der Weihnachtsbaum hieß im Land meiner Kindheit Neujahrsbaum. Bis Silvester bleibt jetzt noch fast eine Woche, und die vorzeitig weggeworfenen Bäume tun mir leid, als wären sie Opfer einer Frühgeburt.
    Im bedachten Durchgang zwischen dem
Kaufhof
und dem Rücken des Hotels
Park Inn
pfeift kalter Wind. Etwas weiter, vor dem
Burger King
sehe ich eine Gruppe, angeführt von einem Mann meines Alters mit einem netten altmodischen Schnurrbart, so wie der von Herrn Seitz.

Weitere Kostenlose Bücher