Berlin liegt im Osten (German Edition)
literarische Olympiade zum Thema ‚Meine Stadt im Jahr 2000‘.
Ich beschrieb, wie uns die Marskinder im Rahmen eines interplanetarischen Schüleraustausches besuchen und sich wundern, dass unsere Häuser so hoch und durchsichtig sind, dass wir keinen Hunger, keine Not, keine schwere körperliche Arbeit, keinen Schmutz, keinen Schneematsch kennen, und dass die Zeit bei uns in Blumendüften gemessen wird: Um zwölf riecht es nach Lilien, um eins nach Rosen. Dann erdachte ich einen Helden, der meinem Vater sehr ähnelte, und schickte ihn zum Mars, wo er für die lichte Zukunft sorgen sollte.
Die Parkettdielen sahen in der Mittagssonne wie Honig aus, es war still. Nur wenn das Brüllen der Schlachttiere bis in die Bibliothek vordrang, wechselten wir flüchtige Blicke und beugten uns tiefer über den Tisch.
Da habe ich von mir geträumt … Ich sah mich, wie ich hinter der Glastüre meines Zimmers stand, irgendwo im Westen, in einem hohen, gläsernen Haus. Hinter dem großen Fenster säuselte die Metropole, unten in den Straßenschluchten brummten unzählige Autos; auf meinem weißen Sofa lag ein aufgeschlagenes Büchlein mit feiner Radierung, auf der eine seltsame Gestalt meinen unsicheren Schatten zusammenfaltet. Ich habe auch lange hingeschaut, um zu sehen, wie ich mein Zimmer betrete: Es war ein schneeloser Winter, ich hatte einen Trenchcoat und schicke Lederpumps an, wie die Französinnen in den Filmen. Und in meiner Hand hing kein Stoffnetz mit einer harten Stange Wurst, sondern eine große, bunte Plastiktasche, aus der zwei lange Baguettes herausragen.
2
Schön, dass du Baguettes gekauft hast – wir haben keinen Krümel Brot zu Hause, ein paar Gurken wären nicht schlecht, kleine Krabben. Marina nimmt mir die Tasche aus der Hand. Wer kommt morgen?
Wie jedes Jahr, seufze ich. Weihnachtsausschuss.
Kurz vor Weihnachten kommt hier alles in Bewegung: Es brummt, grölt, rollt, gleitet, saust – entschlossen und unabwendbar, wie laichende Lachse wallen die Menschenmengen durch die verstopften, unter dem hohen Druck leidenden Transportvenen. Und zum Heiligabend versammeln sie sich alle irgendwo im warmen Inneren eines beleuchteten Dampfers, der im großen kalten Dunkeln schwebt. Es soll wunderschön sein: eine symmetrische Pyramidentanne, ein Kamin, jung aussehende Großeltern, gepflegte Eltern und gesund ernährte, pfiffige Kinder. Alle tummeln sich um eine goldbekrustete Gans
(Maggiweihnachtsgeflügelgoldbackfix – Festliche Tafel, Gans leicht gemacht!)
, um anschließend zu goldenen
Ferrero
-Glückskügelchen zu greifen. Wenn die Menschen dann im Licht vieler Kerzen ihre Geschenke auspacken, tanzen ihre soliden Schatten um sie herum. Diejenigen, die in diesem jährlichen Weihnachtsabzählen (gerade-ungerade) übrig bleiben, stranden an meinem Geburtstagstisch.
Es sind einige russische Freunde oder Bekannte, die gerade in der Stadt sind. Manchmal kommt ein kubanischer Maler vorbei, der auch in Moskau studiert hat und Russisch spricht. Er malt ausschließlich spärlich bekleidete Frauen, die er dann in den Praxen von Physiotherapeuten oder Radiologen aufhängt. Wir lernten uns kennen, als er seine Schönheiten in der
Oase der Liebe
ausstellte (in diesem Fall hat er seine Models in Thüringer Tracht gekleidet). Er heißt Wladimir, weil er in den Jahren der heißen sowjetisch-kubanischen Liebesaffäre geboren wurde. Und, natürlich Maria, meine Kollegin.
Wir alle sind etwa Mitte der Neunziger nach Berlin gezogen. Wladimir via Polen, Ungarn, Spanien – auf den unsichtbaren Ameisen-Routen halblegaler Migranten. Die anderen Russen als Aussiedler. Ich mit meinem russischen Mann, der es geschafft hatte, bei den Behörden seine deutschen und jüdischen Wurzeln nachzuweisen. Maria kam nach Berlin zu ihrem deutschen Bräutigam, mit dem sie sich per Briefwechsel verlobt hatte. Er war ein Angestellter des Rechnungshofes – misstrauisch, ordentlich, angespannt. Jede Minute ihrer Zweisamkeit plante er Monate voraus und trug sie in den Terminkalender ein. Die Verlobung ging in die Brüche, und Maria hat immer wieder auf der Universität inskribiert, um ihren Aufenthalt hier zu verlängern. Sie schaute in die Tiefen der Philosophie und der vergleichenden Literaturwissenschaft, besuchte Vorlesungen der Sozialwissenschaft und der Völkerkunde. Leider versprachen solche und andere romantisch angehauchte Fächer keinen Wohlstand in der Zukunft, und diese Entdeckung nagte sehr an Marias Lernmotivation. Und dann kam ein
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