Berlin liegt im Osten (German Edition)
‚Berlin Alexanderplatz‘ steht auf der Mappe in seiner Hand. Ich verlangsame meinen Schritt, menge mich in seine Herde, spitze die Ohren: Hier war einst das Restaurant des deutschen Fast-Food-Pioniers Aschinger, in dem Franz Biberkopf oft aß.
Aschinger hat ein großes Café und Restaurant. Wer keinen Bauch hat, kann einen kriegen, wer einen hat, kann ihn beliebig vergrößern. Die Natur läßt sich nicht betrügen! Wer glaubt, aus entwertetem Weizenmehl hergestellte Brote und Backwaren durch künstliche Zusätze verbessern zu können, der täuscht sich und die Verbraucher. Die Natur hat ihre Lebensgesetze und rächt jeden Mißbrauch. A. Döblin, Berlin Alexanderplatz, 1929
.
Dann berichtet der Fremdenführer, dass das „Kaufhaus“ früher
Tietz
hieß und dass hier an der Ecke der Franz Biberkopf des Romans mit seinem Bauchladen gestanden hatte und Schnürsenkel verkaufte. Dazu liest er wieder die entsprechende Romanstelle vor und führt seine Gruppe weiter, um auf noch ein Döblin-Zitat hinzuweisen, das auf der geräumigen Fassade des Bürohauses in der Alexanderstraße angebracht ist. Die großen, jeweils auf einer Metallplatte angebrachten Buchstaben sehe ich fast täglich – warum habe ich mir nie die Mühe gemacht, sie in einen Zusammenhang zu bringen? Auch jetzt wird es nicht klappen, denn ich trenne mich von der Gruppe und laufe zum S-Bahnhof in die andere Richtung.
Der Weihnachtsbasar wird gerade abmontiert: Lastwagen brummen, fleißige Handwerker rufen einander zu, mit ihren kehligen Stimmen frecher exotischer Vögel, überall wirbeln kleine Mülltornados. Zwischen dem
Kaufhof
und
C&A
, Skylla und Charybdis, am Eingang zum Bahnhof, legt schon der erste Wurstmensch sein Netz aus. Ein sogenannter
Grill Walker
trägt sein Gerät auf ungewohnte Weise. Es wird nicht nur an der Taille und an den Schultern befestigt, sondern auch mithilfe eines gebogenen Metallrohrs, das zwischen seinen Beinen verläuft und den dampfenden Bauchladen mit dem Gasbehälter an seinem Rücken verbindet. Dieses ulkige Geschirr fällt auf und sieht verblüffend dämlich aus, eines freien Menschen unwürdig. Neben dem Mann steht eine Frau, und neben ihr stehen drei Jungen. Die Frau des
Grill Walkers
ist ebenfalls jung, klein, rundlich, die Jeans spannen sich sehr eng um die kurzen Schenkel. Sie hat einen schrägen, lila gefärbten Pony und ein molliges Gesicht, blass und weich, wie roher Teig, in dem die Piercingkugeln unangenehm glänzen, wie feuchte Froschwarzen. Als sie dem Mann etwas ins Ohr flüstert, verzieht er verächtlich sein saures Gesicht.
Mann, bist du blöd! Er schaut weg von ihr und trommelt mit seiner Metallzange gegen die heiße Grillplatte. Leise, dicht aufeinander folgende leichte Schläge, wie ein Fiebernder mit den Zähnen klappern würde – gedämpfte Trommelwirbel eingesperrten Hasses. Als ich an ihnen vorbeigehe, muss ich an Charles Dickens denken, an seine kleinen Menschen und an düstere Weihnachten. Dann fahre ich mit der Rolltreppe hoch zum S-Bahnsteig, und die Familie bleibt da unten stehen, wie die Orgelpfeifen der Größe nach gereiht. Während die Eltern streiten, beißen die Jungen schweigend in ihre Bockwürstchen.
Damals bei uns in der Gegend um das Fleischkombinat drehte sich alles um die Wurst. Die Arbeiter versteckten die Fleischprodukte unter den Kleidern und verkauften draußen die herausgeschmuggelte Ware. Die Oma beteiligte sich auch am illegalen Geschäft – sie hatte eine eigene Wurstträgerin namens Lydia, der wir ihre Beute abkauften. Die junge Frau hatte einen dicken goldenen Zopf und riesige Brüste, unter die sie viel Fleisch packen konnte. In der Küche legte die junge Frau dann ab. Die Beute baumelte auf der Federwaage mit dem vom Blut rostigen stumpfen Haken, und wir alle schauten auf die kleine rote Zunge, bis diese an der Zahlenskala erstarrte. Zufrieden, so wie sie auf die Flanke eines fleißigen Pferdes geklatscht hätte, schlug Oma auf die Filetstücke, sodass sie leise bebten. Dann wurde abgerechnet. Lydia rollte das Papiergeld zusammen und steckte es in ihren Büstenhalter. Das Kleingeld schüttelte sie in den Lederbeutel mit dem Metallmaul, das mit zwei glitzernden Kügelchen verschlossen wurde.
Lydia kämmte ihre dicken goldenen Zöpfe und schminkte die Lippen rot für ihren hageren Freund, der draußen auf sie wartete. Der Freund hieß Hamlet.
Ich machte mir Sorgen um die Liebe der beiden, denn Lydia roch so stark nach Blut und Cervelat. Es roch allerdings in der
Weitere Kostenlose Bücher