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Berlin liegt im Osten (German Edition)

Berlin liegt im Osten (German Edition)

Titel: Berlin liegt im Osten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nellja Veremej
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ganzen Gegend, selbst an den Büchern in der Bibliothek der Kombinatsverwaltung hing der Geruch von Wurst.
    Wie alle öffentlichen Stellen in der Stadt, wo sogar die kleinen Läden wie griechische Tempel aussehen wollten, war auch die Verwaltung des Kombinats in einem Palais mit weißen Säulen untergebracht. Der Weg zum Eingang war mit Pappeln gesäumt. Diese angeberischen, raschelnden Ausrufezeichen betonten die mediterrane, heidnische Note der Landschaft sehr vorteilhaft. Die Bibliothek war im rechten Flügel des Palais.
    Die Bücherhüterin, eine schöne junge Frau im offenherzigen, geblümten Kleid, saß am Tisch, neben ihr stand ein Schildchen:
Gutova, Vera Antonowna
. Sie füllte meine Karteikarte aus und ließ mich in ihren Irrgarten wandern.
    Es war ein fünfzig Quadratmeter großer Raum mit etwa einem Dutzend Bücherregalen. Ich wollte etwas Heiteres lesen und griff zum Band ‚Der lachende Mann‘ von Victor Hugo.
    Ist es ein lustiges Buch?
    Nein. Aber ein gutes. Es spielt am Ende des 17. Jahrhunderts in England und Frankreich. Und es handelt von einem tapferen Menschen, der das Böse überlistete, weil er die Gabe des Mitleids und der Liebe nicht verloren hatte.
    Drei Nächte lang wanderte ich Hand in Hand mit dem kleinen Guinplaine durch die von Machtgier, Lust und Spaß regierte Welt. Der kleine Junge gerät in die Hände von Menschenhändlern, den Comprachicos, die Kinder verstümmeln, um dann mit ihrem Aussehen das Publikum zu belustigen. Guinplaine, ein lachendes Monster, dessen Mund bis zu den Ohren aufgeschlitzt ist, wird seine Peiniger los, nimmt alle nur erdenklichen Hürden, macht eine politische Karriere, um die Armen und Rechtlosen im Parlament zu verteidigen. Als ich Vera das Buch zurückbrachte, schaute sie mir in die Augen und lächelte: Du musst dich nicht schämen, es waren edle Tränen, solche, die unsere Seelen bewässern und reinigen.
    Sie legte ihre Arme auf meine Schulter und zog mich an sich. Die Haut unter ihren Achseln war glattrasiert und duftete nach Veilchen. Wenn meine Mutter ärmellose Kleider trug, bewegte sie beim Gehen ihre Arme am Körper wie eine Puppe – nach vor und zurück, um die kleinen dunklen Härchen nicht zu zeigen. Und Vera bewegte sich so frei!
    Ich durfte sie mit ihrem Vornamen ansprechen, wie eine Gleichaltrige, und ohne den Vatersnamen,
Vera Antonowna
, wie es bei uns üblich wäre. Nach Victor Hugo folgten Puschkin, Tolstoi, Mark Twain, Dickens, Balzac, Stendhal, García Marquéz … Vieles verstand ich nicht, gab aber nicht auf – mir schmeichelte, wie sie alle zu mir sprachen: als ob sie einen besseren, höheren Menschen mit Halt und Würde in mir sähen. Einen, der für mich selbst und für den Rest der Welt unsichtbar war. Ich kam sehr oft zu Vera, hungrig nach Zeit- und Weltreisen mit den Siebenmeilenstiefeln, die mir Vera auslieh – die wärmende, prickelnde Wonne dieser gebenden Hände werde ich nie vergessen.
    Wenn Vera neue Bücher bekam, legte sie sie für mich beiseite, damit ich sie als erste lesen konnte. Sie wartete ungeduldig, bis ich mit der Lektüre fertig war, und fragte dann nach – gierig, zu jedem Disput und zu allen Debatten bereit. Ihr fehlten offensichtlich Menschen, die ihren Lesewahn teilten.
    Über sich erzählte sie nur wenig, ich aber schämte mich, sie nach ihrem Leben zu fragen, weil es manches üble Gerücht über sie gab. Daher habe ich nie erfahren, wie sich diese goldhaarige unzüchtige Fee mit dem absoluten Gehör für Literatur in die südliche und verschlafene Stadt verirrt hatte, eine Stadt, wo Bücher, durch Massenauflagen und Spottpreise diskreditiert, wie Parias lebten – ohne Not wollte man sie nicht anzufassen. Die Provinzakademiker hier sammelten mitunter die Werke angesehener Autoren, allerdings nur, um mit den soliden Lederrücken den Wandschrank zu schmücken. Die Bücher verreckten jungfräulich in diesen Nekropolen, ohne je die Wärme menschlicher Hände erfahren zu haben. Im Norden des Imperiums, in seinen großen Städten, hatten die Bücher und ihre Liebhaber viel bessere Konjunktur. Vera war wie ich eine Zugereiste, und im Stillen hielten wir Lesende uns für eine eigene, für eine kultiviertere Menschenspezies.
    Wir waren meistens zu zweit da. Gegen den Tisch gestützt, drehte Vera eine Haarsträhne um den Zeigefinger und las. Gelegentlich klapperte sie mit dem Schuh, der auf der Zehe ihres übergeschlagenen Beines hing, gegen die Ferse. Und ich mühte mich an einem Aufsatz ab für die

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