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Berlin liegt im Osten (German Edition)

Berlin liegt im Osten (German Edition)

Titel: Berlin liegt im Osten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nellja Veremej
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Urknall, eine große Liebe. Ihr Deutschlehrer, der nur so tat, als sei er ein einfacher Deutschlehrer. Eigentlich war er ein großer Gelehrter, ein Sprachgenie, ein Romantiker, der seine Karriere aufgab und in die kahlen Berge des Orients fuhr, um die Lage der Leprakranken, der Eingekerkerten zu verbessern und um aussterbende Berg-Dialekte zu untersuchen. Seine Mission und sein mysteriöser Tod in den Bergen schienen mir einem Kostümschinken entsprungen zu sein, ich teilte aber Marias Pathos, um sie in ihren großen Gefühlen nicht zu beleidigen. Sie waren sich drei Monate vor seiner Abreise begegnet, er blieb ein Held für sie, ein mythisches Mischwesen. Humboldt und Mutter Theresa in einem.
    Wenn er zurückkehren würde, dann würde er für immer bei mir bleiben, ich bin mir so sicher! Er war neunundzwanzig Jahre alt – so viel Zeit braucht Saturn für einen vollen Umlauf um die Sonne, in diesem Alter startet man die zweite große Runde –, tatkräftig, erfahren, aber immer noch jung und neugierig. Es hat alles nicht geklappt!, seufzte Maria, eine glühende Anhängerin der Astrologie.
    Danach war Maria zwei Mal verheiratet. Ihre beiden Ehemänner waren philosophisch-musisch und links gefärbte Schwärmer mit etwas zu langen Haaren und etwas zu kurzen Socken. Die kapitalistischen Arbeitsmodalitäten und die trivialen Familienfreuden widerten diese Männer gleichermaßen an – selbst ein Atomeisbrecher wäre nicht imstande gewesen, die beiden kontemplativen Romantiker vom Sofa zu zerren. Die solide, zuverlässige Männlichkeit, auf die die reife Maria inzwischen so viel Wert legte, hat sich bei diesen Männern jedenfalls nicht entpuppt.
    Nun lebt Maria allein. In ihrem Portemonnaie, im kleinen abgegriffenen Folienfenster, trägt sie das Foto des toten Bräutigams, dessen Hochzeitsanzug wohl allen lebenden Männern immer ein paar Nummern zu groß sein wird.
    Es gab auch noch Gerald, der bei mir einst Russisch gelernt hat, wegen seiner Liebe zur verschwundenen mittelasiatischen Zivilisation. Gerald weiß alles über die alte Seidenstraße und die Timuriden und bringt immer ein ulkiges einsaitiges Zupfinstrument mit.
    Es war keine fröhliche Party. Die Gäste kannten sich zu wenig untereinander, die Witze blieben oft unverstanden in der Luft hängen, das gemeinsame Gespräch versickerte immer wieder in kleinen Missverständnissen.
    Alles ist da: Wurst, Tomaten, Käse, sagt Marina und krempelt ihre Ärmel hoch. Ich werde gleich Heringe ausnehmen und Rote Beete kochen. In dem Moment klingelt es. Vor der Tür steht unsere Nachbarin von unten, Elisabeth, und reicht mir ein Buch, eingewickelt in schwarzweiß gestreiftes Geschenkpapier.
    Herzlichen Glückwunsch!
    Danke, sage ich. Du hast dich aber geirrt. Morgen ist mein Geburtstag. Trotzdem danke für das Buch.
    Gern geschehen, sagt die dicke Elisabeth und bleibt stehen.
    Komm morgen vorbei, jetzt muss ich leider gleich aus dem Haus, lüge ich, um sie loszuwerden.
    Ich war froh, als sie mich vor mehreren Jahren angesprochen hat. Sie war die einzige Nachbarin, mit der ich gelegentlich redete. Sie sagte, sie möge alles Russische: Schnee, Frost, Ballett, Gagarin … Die Russen sind so musikalisch, ihr habt eine große Seele, gackerte Elisabeth und wiegte freundlich ihren Kopf. Zwar habe ich noch nie singen gekonnt, ihre Wörter aber schmeichelten mir, auch wenn ich bald merkte, dass sie in ihrem Kopf nicht ganz klar ist. Einmal hat sie mir erzählt, ihre Mutter wolle sie vergiften und ihren Sohn ins Heim stecken. Dann erzählte sie, dass sie sich von ihrem Lebenspartner trennen musste, weil er ihre kleine Tochter sexuell belästigte. Ein andres Mal sagte sie, dass sie sehr glücklich sei, dass ihre Kinder in einem Internat für musikalisch hochbegabte Jugendliche untergebracht sind. In Wirklichkeit aber hatte sie nie Kinder, und ihre Mutter ist längst tot, und die Geschichten, die sie mir erzählte, waren nicht mehr als Variationen zum aktuell laufenden ‚Tatort‘. Abgesehen von diesen sagenhaften Lügen ist sie ein normal funktionierender Mensch: Sie führt tadellos ihren Haushalt, in dem neben ihr auch Hasen, Meerschweinchen und ein Kater leben. Und sie hat einen passablen Job mit fester Anstellung. Sie arbeitet als Pförtnerin in einer Bibliothek, wo sie wie eine Birne an ihrem Tresen beim Eingang sitzt. Piepst es bei den Schleusen, steht sie auf, um einen Blick in die Taschen der Besucher zu werfen. Das geschieht allerdings nicht so oft – es ist keine gut besuchte

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