Berlin liegt im Osten (German Edition)
Bibliothek, also sitzt sie den ganzen Tag da und liebt den Betreiber eines kleinen Cafés, einen jungen Türken. An seine Kaffeemaschine gekettet, ist er in der gegenüberliegenden Ecke des Foyers auch den ganzen Tag vor Elisabeths Augen. Er ist ihr Zinnsoldat und sie seine Pappballerina. Wenn die runde Elisabeth einen Espresso bestellt, zupft der hagere Zinnsoldat zackig und zornig an den Griffen der Kaffeemaschine. Dann stellt er den Espresso auf den Tresen, fegt die Münzen in die Schublade, ohne seine Pappballerina anzuschauen, und wendet sich der
BZ
mit dem Bibliotheksaufkleber in der oberen Ecke zu. Unvorteilhaft unterstreicht die winzige Tasse Elisabeths korpulente Erscheinung.
Elisabeth schenkt mir oft Bücher, die ihre Bibliothek nicht mehr braucht. Diesmal ist es eine alte, aber kaum berührte Ausgabe von ‚Peter Schlemihls wundersamer Geschichte‘. Erst in Anbetracht der feinen Radierungen fällt mir ein, dass ich das Buch irgendwann gelesen habe, jedenfalls weiß ich immer noch, wie Vera es mir aushändigte: Hier, ganz neu. Riech mal!, flüsterte sie, als ob wir etwas Verbotenes täten, und schob mir einen blauen Band unter die Nase: ‚Ausgewählte Prosa von deutschen Romantikern‘. Das damalige Buch war mit den gleichen Bildern versehen wie dieses: Vorsichtig schleicht das gemeine Wesen dem Helden nach und ergreift seinen zappelnden Schatten am Bein. Diese alte unheimliche Radierung beeindruckte mich damals sehr. Aber die Geschichte selbst fand ich als Dreizehnjährige nicht spannend und fantastisch genug. Ich las sie (nur Vera zuliebe) fleißig durch und konnte dennoch nicht begreifen, was diesen Burschen bewegte und quälte. Leichten Herzens tauscht Peter Schlemihl seinen Schatten gegen einen immer vollen Goldsäckel; wie eine Sau im Matsch wühlt und wälzt er sich schwelgend im Gold und fühlt sich sehr wohl, bis irgendwelche Taugenichtse und Müßiggänger ihn wegen seines fehlenden Schattens verlachen. Ab nun an wird etwas, dem er in seinem vorherigen Leben keine Aufmerksamkeit geschenkt hat, zu seiner Obsession.
Was hat er mit seinem Schatten verloren?, fragte ich Vera.
Schwer zu sagen, hob sie ihre schöne, geblümte Schulter. Ich habe auch darüber gerätselt. Es ist wohl etwas, das dem Menschen so nahe ist, dass er es gar nicht sieht. Nur wenn er es verliert, lernt er es schätzen.
Sie stand auf, zupfte an ihrem Kleid, stellte einen Fuß vor den anderen und zitierte die lange Vorrede des ‚Schlemihl‘, deren berühmte letzte Zeilen zwar sehr stark klangen, aber die Frage keinesfalls klärten:
… Die wir dem Schatten Wesen sonst verliehen, / Sehn Wesen jetzt als Schatten sich verziehen
. An dieser Stelle öffnete sie die Augen und sagte: Ist es nicht schön? – Schön ist es, aber es beantwortet nicht meine Frage.
Nur in den Schundromanen werden alle Geheimnisse gelüftet, sagte Vera streng, die Literatur aber ist dafür da, die wichtigen Fragen zu stellen, sie muss sie nicht beantworten.
Vera war eine Hüterin der hohen Kultur, die Priesterin einer Sekte der Lesekundigen, der Eingeweihten, die besonders in der bergigen sowjetrussischen Provinz so schreiend deplatziert wirkten. Die kultivierten Bürger wohnten in Moskau und in Leningrad, und der Rest war Peripherie, die von unseren glänzenden Metropolen träumte. Und diese schielten ihrerseits zu den kaum sichtbaren Leuchttürmen des Westens hinüber. Die Landstriche westlich der sowjetischen Grenze wurden von Repräsentanten einer göttlichen Rasse bewohnt: Sie trugen Bogarts Macintosh und ein Baguette in der Hand, das Pflaster unter ihren Füßen war mit duftenden Shampoos gewaschen. Daher hatten sie alle zu Hause keine Pantoffeln an, sondern liefen mit den Straßenschuhen durch die Wohnungen. Die Lebensweise der Europäer war uns weniger vertraut als die der Marsbewohner, über deren Sitten uns sowjetische Unterhaltungsbücher bestens informierten. Wir sehnten uns nach dem unfassbaren Westen und waren sehr neugierig darauf. In Russland repräsentierten die Deutschen das wahre Abendland, sie waren unsere eigenen Fremden. Die anderen Europäer waren uns zu abstrakt. Die Deutschen aber schienen zum Greifen nah zu sein und auch so anders als wir: fleißig, nüchtern, sachlich, wie Herr Seitz.
Das alles geht mir durch den Kopf, als ich das Buch von Elisabeth aufschlage. Für einen Augenblick sehe ich mich und meine Berliner Wohnung aus der Perspektive der damaligen Zeit, und ich spüre einen zarten Glücksstich im Herzen. Der
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